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14.11.2004
„Ich habe gar nicht gewußt, wie wichtig dieses Thema ist“
Der Kanzler und die Rechtschreibreform
Es hat, wie der Spiegel in seiner neuen Ausgabe berichtet, eine Weile gedauert, aber am 1. September 2004 war es so weit: der Unmut über die Rechtschreibreform drang bis an die Ohren Gerhard Schröders.
Hier ist die Geschichte, so, wie Christoph Schmitz sie in Ausgabe 47/04 auf Seite 40 erzählt. Doch ob sie auch wahr ist? Ein wenig märchenhaft hört sie sich schon an, ganz besonders am Ende, als Doris Ahnen den Kanzler mit Argumenten wieder auf Kurs bringt, an die sie selbst nicht glauben dürfte:
»Des Kanzlers Rückzug
Wie Gerhard Schröder den Gegnern der Reform helfen wollte - und sich dabei ziemlich verhob
Die schöne Witwe, Ulla Unseld-Berkéwicz, hatte eine Tafel für 13 Personen eingedeckt. Deutsche Geistesgrößen aus Literatur und Wissenschaft waren pünktlich in der Frankfurter Gründerzeitvilla eingetroffen, eine private Runde, in der bei gutem Essen und gutem Wein über die großen Fragen der Zeit diskutiert werden sollte. Nur einer kam zu spät - Gerhard Schröder.
Auf dem Programm standen der Wahlkampf in den USA, der Krieg im Irak und ein Thema besonderer Art, das in den Wochen vor diesem 1. September unversehens wieder Furore machte: die Reform der deutschen Rechtschreibung.
Die Kontroverse war da in Politik, Medien und Schulen bereits heftig hochgekocht, doch der Kanzler hatte sich herausgehalten. "Es gibt seitens der Bundesregierung keine Überlegungen, die Rechtschreibreform rückgängig zu machen", ließ er noch im August unters Volk streuen.
Schließlich hatten die Kultusminister der Länder schon ein Vierteljahrhundert an der Reform gebastelt und sahen sich nun erbosten Sprachwissenschaftlern, Schriftstellern und einer Mehrheit in der Bevölkerung gegenüber.
An diesem Abend in Frankfurt aber sollte sich auch Gerhard Schröders Gesinnung wandeln.
Ohne Entourage, ohne Bodyguards und ohne Ehefrau Doris kam der rote Regent und nahm Platz. Ringsum Bücherwände, unter ihm ein blauer Teppich, rechts und links neben ihm Susan Neiman, Direktorin des Einstein Forums in Potsdam, und Christine Becker, die Witwe des Schriftstellers Jurek Becker. Ihm gegenüber die Gastgeberin Ulla Unseld-Berkéwicz, die als Suhrkamp-Verlegerin das Erbe ihres verstorbenen Mannes Siegfried Unseld angetreten hat.
Es begann ein heiteres Tête-à-tête - nur die Gastgeberin war sichtlich nervös. Mit Schröder hatte sie zwar schon bei mehreren Besuchen im Kanzleramt geplaudert, denn der Regierungschef umgibt sich gern mit großen Namen aus der Kultur. Er sucht deren Nähe und demonstriert seine Verbundenheit mit dem Geist, wie einst Willy Brandt.
Ulla Unseld-Berkéwicz hatte an diesem Abend ein Anliegen. Sie wollte dem Kanzler den Unsinn der Rechtschreibreform klar machen. Programmchef Rainer Weiss und Lektor Wolfgang Kaußen standen ihr zur Seite. Das Haus Suhrkamp ist bei den bewährten Regeln geblieben. Wie die Gäste, die allesamt bei Suhrkamp publizieren: die Dichter Durs Grünbein und Lutz Seiler, die Schriftsteller Volker Braun und Norbert Gstrein, der Hirnforscher Wolf Singer und der Soziologe Ulrich Beck.
Alle legten sich für ihre Verlegerin ins Zeug. Ganz im Sinne von Durs Grünbeins Abrechnung mit der angeblichen Vergewaltigung der Sprache durch die Reform: "Man vergreift sich nicht an der Mutter. Man spielt nicht mit dem Körper, der einen gezeugt hat." Im Übrigen gehe es doch nur um den Anschluss der "deutschen Sprache an die lingua universalis der Gebrauchsanweisungen, der Märkte und Börsen".
Etwa 20 Minuten machten die Dichter und Denker ihrem Ärger über die Ungenauigkeiten, Widersprüche und Fehler des neuen Regelwerks Luft. "Ich habe gar nicht gewusst, wie wichtig den Autoren dieses Thema ist", sagte der Kanzler danach, von der Eindringlichkeit der Appelle sichtlich bewegt.
"Können Sie nicht etwas unternehmen?", fragte die Verlegerin prompt. Der Kanzler zögerte: "Sie kennen doch die föderalen Strukturen und Zuständigkeiten."
Ein kurzes Brainstorming - dann, so ein Gast, folgte der erlösende Satz: "Wenn den Autoren das Thema so wichtig ist", sprach der Herr über die politische Richtlinienkompetenz, "dann sollte die Diskussion über die Rechtschreibreform wieder eröffnet werden."
Alsdann schlug Schröder einen Friedenskonvent in Berlin vor - ein großes Forum, auf dem Spitzenpolitiker aus den Bundesländern, aus Österreich und der Schweiz, Schriftsteller und Vertreter aus Akademien und Universitäten einen Weg aus dem reformierten Regelwerk finden sollten, das die Kultusminister beschlossen hatten.
Schauplatz dieses Treffens sollte die Akademie der Künste neben dem Brandenburger Tor sein. "Wir wären gern Gastgeber geworden", sagt deren Präsident, der Schriftsteller Adolf Muschg.
Zurück in Berlin, machte sich der Bundeskanzler ans Werk - doch so schnell die Idee geboren wurde, so schnell musste sie begraben werden. Nachdem Gerhard Schröder mit Doris Ahnen, der rheinland-pfälzischen Kultusministerin und Präsidentin der Kultusministerkonferenz, telefoniert hatte, erlahmte sein Elan.
Die zierliche, aber unnachgiebige SPD-Frau legte sich quer. Sie verwies auf Schüler und Schulbuchverlage, die längst auf die neue Rechtschreibung umgestellt hätten. Der Kanzler gab klein bei.
In einem Brief an die Verlegerwitwe zog er die angekündigte Revolte zurück: "Es war zu spät." CHRISTOPH SCHMITZ«
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Kommentar von Michael Krutzke, verfaßt am 17.11.2004 um 16.11 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=137#47
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Zu den Standpunkten unseres Kanzlers fällt mir immer wieder ein Ausspruch Wolfgang Schäubles aus dem Wahlkampf ein, aus dem Herr Schröder das erste Mal als Kanzler hervorging. Sinngemäß hatte Schäuble gesagt, es gebe nicht einen Standpunkt zu wichtigen Fragen, den Schröder nicht schon einmal eingenommen habe. Der Mann bleibt sich treu (wie viele andere auch).
Es ehrt Frau Unseld-Berkéwicz und ihre sachkundigen Gäste, daß sie diesen Versuch unternommen haben (wenn es denn so war). Aber es bringt dem Kanzler keine neuen Stimmen, wenn er das per Arroganz der Macht installierte Werk in Frage stellt. Und es kostet ihn keine Stimmen, wenn er die Finger davon läßt. Also war es im Bund-Länder-Geschachere über dieses und jenes wohl nicht einmal ein Opfer, das der zunächst erleuchtete Kanzler seiner "zierlichen" SPD-Frau Ahnen zu bringen hatte. Wobei das Wörtchen "zierlich" in diesem Zusammenhang auch die Argumente dieser Dame gegen eine Rücknahme der Rechtschreibreform gut charakterisiert. Seltsam, mit welch argumentativer Magersucht die Reformer ihr Werk verteidigen. Und der Starrsinn, mit dem unsere kultusministerielle Versagertruppe (der wir den heutigen Zustand unserer Schulen verdanken) an diesem Reformwerk festhält, verblüfft auch ein wenig. Wer Seumes "Spaziergang nach Syrakus" liest, wird auch als Laie erkennen, daß der Reformfortschritt große Teile der Schriftsprache auf das Niveau des Jahres 1802 "voran"gebracht hat. Nicht etwa, weil sich die Sprache dorthin entwickelt hätte, sondern weil man sie mit einem gewaltigen Regelwerk teilweise auf diesen Stand zurückbombt.
Um die Selbstachtung dieser Minister, denen der wichtigste Zukunftszweig unserer Gesellschaft (und auch Wirtschaft) anvertraut ist, kann es nicht eben gut stehen. Aber daran stören sich Politiker und Ideologen jeglicher Einfärbung bekanntermaßen wenig.
Doch täuschen wir uns nicht. Ein beachtlicher Teil von Menschen, die nicht gern schreiben, dies aber ab und zu tun müssen, empfindet die im Windschatten der Neuregelung entstandene Regellosigkeit als Befreiung. Das läßt sie zu bequemen Bündnispartnern der Reformbetreiber werden. Befreit von gesellschaftlichem Druck zu gepflegten Manieren, würden sie sich auch rasch daran gewöhnen, in Gesellschaft und bei Tisch Taschentuch und Serviette durch den Ärmel zu ersetzen; zumal, wenn die sie umgebenden ersten Adressen aus Politik und Wirtschaft, Presse, Schule und Elternschaft sowie die gegen wachsende Bedeutungslosigkeit ankämpfenden GEW-Ideologen es ihnen schmatzend und schnaubend vormachten. (So könnte man das soziale Miteinander vom Ballast überkommener Konventionen befreien - zugunsten der Unterprivilegierten natürlich.)
Warten wir also darauf, daß Frau Ahnen mit ihrer "Hand voll" Kolleginnen und Kollegen die Mathematik reformiert, um den Kleinen und den Unterprivilegierten auch das Rechnen zu erleichtern. 3 mal 3 darf dann "ungefähr 8" sein (was ja stimmt), vielleicht auch "8 oder so" und natürlich auch 10. Für die Schlaueren wird dann eine "Meta-Toleranzregel" geschaffen, nach der auch "ungefähr 9" erlaubt ist, schließlich ist das ja sehr, sehr nah an der genauen Lösung. Und die ganz Schlauen bekommen für "gleich 9" ein kleines Lob, das die anderen aber nicht diskriminieren darf. Sinnvollerweise sollte dann auch die Ungleichung zum Standard gemacht werden, die unendlich viele richtige, aber nur wenige falsche Lösungen kennt. Auf die zu kommen, wäre dann Sache eines Leistungskurses. Also Reformer, jetzt bloß nicht schwächeln! Macht die "Qualität eines Menschen nicht länger an den Mathematikleistungen fest" (frei nach Frau R. Hendricks). Und die so Beglückten schrieben dann unter Aufbietung aller bereits erfahrenen schriftlichen Ausdrucksfähigkeit den strahlenden Reformern ins Stammbuch: "konkret voll krass ey oder so" ...
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