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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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19.10.2006
 

Zeihung
Verzeihung, ich habe geziehen

Hendrik Werner schreibt in der "Welt" vom 18.10.06 über mich, den "Puristen":

"Eine Zeitung, die die Veranstaltung ankündigte, zeiht er, 'initiiert' geschrieben zu haben. Eine Wortgesinnungspolizei, die alles andere als die reine Lehre so brüsk ablehnt, scheint indes kaum dazu angetan, einer Huldigung des Deutschen dienlich zu sein."

Ich habe nicht geziehen, sondern zitiert, und ich habe mir erlaubt, das ebenso häßliche wie überflüssige Wort "initiiert" in distanzierende Anführungszeichen zu setzen und ein Ausrufezeichen dahinter, weil die zitierte Zeitung sich sonst um besseres Deutsch bemüht. Daraus macht Dr. Werner die Aktion einer "Wortgesinnungspolizei". Ist das nicht ein bißchen übertrieben? Bei der "Welt" ist natürlich jedem Mitarbeiter bewußt, daß man gezwungenermaßen einen kapitalen Unsinn mitmachen muß. Das mag die heftige Reaktion erklären. (Werner hält mir ja auch vor, daß ich das angekündigte Sprachfest weder beschrieben noch gewürdigt habe – aber das wollte ich weder noch konnte ich es, denn es hatte ja noch gar nicht stattgefunden.)



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Kommentare zu »Zeihung«
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Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 19.10.2006 um 17.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#5938

Man hätte würdigen können, daß das Fest initiiert wurde, meint Herr Werner.
 
 

Kommentar von Fungizid, verfaßt am 19.10.2006 um 17.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#5940

Bei Herrn Werner bin ich mir nie sicher, ob es noch juveniler Trotz oder schon Altersstarrsinn ist.
 
 

Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 19.10.2006 um 19.16 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#5941

In einem Leserbrief an "Die Welt" habe ich gestern darauf hingewiesen, daß der Autor besagten Artikels entweder nicht weiß was ein "Purist" ist (er meinte vielleicht "Sprachpurist") oder daß er zu diesem Wort greift, um, statt zu diskutieren, seinen Diskussionspartner zu stigmatisieren. Damit "verlottern" (O-Ton des Autors) die Diskurssitten.

"Die Welt" hat übrigens nicht geringen Anteil an der "Verlotterung der syntaktischen und semantischen Sitten", was sich täglich nachprüfen läßt.
 
 

Kommentar von T.P., verfaßt am 19.10.2006 um 19.54 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#5943

Werner benötigte eben für den Schluß seines Artikelchens noch eine Pointe. Leider hat er ungenau recherchiert.
 
 

Kommentar von S.L., verfaßt am 19.10.2006 um 20.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#5944

Vor einigen Monaten, als die Springer-Zeitungen seine Kritik an der Rechtschreibreform noch teilten, war Prof. Ickler noch "Deutschlands wichtigster Sprachwissenschaftler" (BILD). Die Ansicht, daß die deutsche Sprache verfalle, mag man teilen oder nicht. Eines - und das wird durch diesen Artikel deutlich - verfällt ganz sicher: das Niveau der deutschen Journaille. Ich kaufe mir, da ich oft mit der Bahn reisen muß, häufig die FAZ am Kiosk. Wenn diese einmal vergriffen war, wich ich in der Regel auf die 'Welt' aus. Inzwischen kaufe ich mir dieses Blättchen nicht mehr. Besser für einen Tag keine Tageszeitung als diese!
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 19.10.2006 um 22.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#5946

In der Welt stehen auch gute und gelegentlich sogar sehr gute Sachen, aber man glaubt, das chronisch defizitäre Blatt mit lockerflockigen Diskursübungen wie der hier angesprochenen aufmotzen zu müssen. Dietmar Dath bei der F.A.Z. ist auch so ein Fall. Berufsjugendliche gibt es nicht nur in den Parteien, sondern auch in den Zeitungen.

Und übrigens: Welche Riten muß eine Sache eigentlich durchlaufen, um initiiert zu werden?
 
 

Kommentar von Ballistol, verfaßt am 20.10.2006 um 08.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#5952

Ich habe Prof. Icklers Wirken bisher übrigens noch nicht als eine "Huldigung des Deutschen" empfunden.
 
 

Kommentar von T.P., verfaßt am 20.10.2006 um 09.13 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#5953

Wir brauchen eine Initialzündung, um eine Initiative zu gründen, die die endgültige Initiation des Wortes "initiieren" initiiert. Um ein breites Bündnis zu ertielen, sollten wir die Rechtschreibreformer einbetiehen, die auf Kosten des "t" sicher gerne ein behutsames "z" für das Wörtchen spendieren. Dann wäre der Purismusverdacht mit Sicherheit vom Zisch.
 
 

Kommentar von Ballistol, verfaßt am 20.10.2006 um 12.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#5958

Lieber Herr Paulwit,

Sie werden lachen, aber im Rumänischen gibt es ein t mit Cedille für den z-Laut: ţ (Zeichen Nr. 355).
 
 

Kommentar von T.P., verfaßt am 20.10.2006 um 15.50 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#5962

Ja, eigentlich müßte es reformerisch auf "initsiieren" hinauslaufen. Das Z ist doch, so wie das Fau, föllig überflüssig.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.10.2006 um 06.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#6197

Heute wird das Sprach-Fest in der FAZ von Edo Reents gewürdigt. Es scheint ja ein netter Abend gewesen zu sein, auch weil niemand die Rechtschreibreform erwähnte. So blieb es wohl dabei, daß man sich über die Redeweise anderer Leute lustig machte. Das Fest war also, wie wir nun noch einmal lesen, von Edda Moser "initiiert". Ich gebe mich geschlagen.

Komische Idee, daß die deutsche Sprache (wer ist das überhaupt?) "krank" sein könne ... Andererseits wirkt sie ein bißchen angeschossen, von Zehetmair und den Seinen.

Reents erwähnt auch das bekannte lustige Interview-Textchen der Hamburger Schneiderin Jil Sander. Es ist auch im Deutschbuch 8 vom Cornelsen-Verlag (2006) enthalten und war seinerzeit für den VDS Grund genug, tierisch ernst der Urheberin den Sprachpanscher-Preis zu verleihen. Man fragt sich, was dieser Text mit dem Zustand der deutschen Sprache zu tun haben könnte.
 
 

Kommentar von Ballistol, verfaßt am 21.10.2006 um 09.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#6249

Lieber Prof. Ickler,

ganz so an den Haaren herbeigezogen sind die Klagen über den Sprachverfall ja nun nicht. Die jungen Leute werden gerade in dem Lebensabschnitt, in dem sich Sprachgefühl und Ausdrucksfähigkeit entwickeln, mit einem unglaublich miesen Deutsch zugemüllt, und dies von blasierten Werbefritzen, allzeitjuvenilen Anbiederern und unseren staatsnahen Unternehmen, die sich allesamt jetzt als "Global players" gerieren.

Ich meine, dies alles ist typisch deutsch, denn kein anderes Volk (politisch korrekt: "Bevölkerung") käme auf die Idee, sich und den anderen eine nur scheinbare Weltoffenheit vorzuspielen, zugleich aber tief im Ressentiment und Dünkel steckenzubleiben – nun gegen alles nichtglobale. Es haben schon andere gesagt: Die deutsche Spielart der Fremdenfreundlichkeit ist nur die Rückseite der Verachtung.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 21.10.2006 um 10.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#6260

Sprachverfall, Zumüllung mit unglaublich miesem Deutsch? Also, wenn ich per Zufallsprinzip einen Fernseh- oder Radiosender wähle, dann höre ich fast immer normales, ordentliches, oft auch gepflegtes Deutsch. In der Presse steht sprachlich kein Müll, öfter schon inhaltlich. Überhaupt sind sonstige Verfallserscheinungen in unserer Gesellschaft oder auch weltweit doch viel ausgeprägter. Bei uns zum Beispiel die körperliche Fitness oder die ungesunde Ernährung betreffend – da müllen große Teile der Bevölkerung den eigenen Körper zu und tun nichts für ihn. Das Tun oder Unterlassen ist in erster Linie dem einzelnen "Betroffenen" zuzuschreiben. Niemand wird gezwungen, sich von Currywurst und Schokoriegeln zu ernähren. Das sind Ernährungsangebote. Genauso gibt es die Sprache um uns herum in verschiedenen Erscheinungsformen als insgesamt vielfältiges "Angebot". Von oben herab wird niemand gezwungen, kaputtes Deutsch zu verwenden.

Eine Ausnahme ist die Rechtschreibreform. Das ist Müll von oben, gegen den man sich nicht oder kaum wehren kann. Deshalb sollten wir uns auf dieses Thema konzentrieren. Die Rechtschreibreform könnte zum Vorteil aller aufgegeben werden, sie ist eine sehr destruktive Maßnahme. Die Variation in der Sprachqualität wird es immer geben, sie ist natürlich und normal.

Wer ist es denn, der sich hierzulande nicht richtig auf deutsch ausdrücken kann? Das betrifft in erster Linie Ausländer, die Deutsch nicht von klein auf gelernt haben. Das Manko kann man allerdings nicht dadurch beheben, daß Journalisten oder "Werbefritzen" sich verpflichten, ein noch besseres Deutsch zu verwenden.
 
 

Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 21.10.2006 um 11.21 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#6261

Wie oder was?

"Was" hat eigentlich Reiner Kunze beim "Festspiel der Deutschen Sprache" gelesen? Aus dem Artikel der heutigen FAZ (S.35) geht nur hervor, „wie“ er gelesen hat: „spitzmündig-caesarengesichtig“.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 21.10.2006 um 11.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#6262

Von oben herab wird niemand gezwungen, kaputtes Deutsch zu verwenden. So? Was ist denn mit Vorgesetzten, die ihre Untergebenen dazu anhalten, sich englisch klingende Werbesprüche auszudenken? Mit Senior Managern, die ihr Fußvolk per Anweisung davon informieren, daß der Fahrkartenschalter nur noch Ticketcounter genannt werden dürfe? Keine Mode ohne Zwang.

Es würde auch mich wundern, wenn Reiner Kunze bei dieser Gelegenheit die Rechtschreibreform nicht erwähnt hätte.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 22.10.2006 um 03.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#6489

Bei Moden ist noch immer jeder frei, sie mitzumachen oder seinen eigenen Stil zu wählen. Daß in einem Unternehmen irgend jemand das Sagen hat und den Angestellten Richtlinien vorgibt, steht auf einem anderen Blatt. Es ist selbstverständlich. Soll sich die Krankenschwester darüber empören, daß sie dem Zwang unterworfen ist, eine bestimmte Kleidung anzulegen, wie es das Haus ihr vorgeschrieben hat? Den oder die Verantwortlichen bei der Deutschen Bahn hat niemand gezwungen, sich für "Ticket Counter" zu entscheiden statt zum Beispiel für "Fahrscheinausgabeschalter". Ich kann es verstehen, daß es im Sinne des Unternehmens ist, daß nicht jeder Angestellte seine eigenen Begriffe verwendet, dieser einen deutschen Begriff, der andere einen englischen Begriff; und nun ist die Entscheidung eben zugunsten von "Ticket Counter" gefallen (ich vertraue hier auf die Information von Herrn Markner und interpretiere sie).

Bei Google ergibt "Deutsche Bahn" + "Ticket Counter" übrigens nur ca. 400 Treffer, "Deutsche Bahn" + "Fahrscheinausgabe" ergibt über 1000 Treffer. So weit ist es mit der Durchsetzung zweifelhafter Begriffe auch wieder nicht her.

Was das Englische in der Werbung betrifft: Der Kunde ist König. Das ist in diesem Fall nicht die Öffentlichkeit, sondern das Unternehmen, für das zum Beispiel ein Slogan gefunden werden soll. Oft gibt es Listen mit fünf oder zwanzig oder auch mal fünfzig Slogans zur Anregung und zur freien Auswahl. Aber auch wenn nur ein Slogan vorgeschlagen wird und dieser englisch ist – der Kunde zahlt viel Geld für die Werbung, also wird er natürlich selbst entscheiden, unter welchem Motto oder mit welchem Deutsch oder Denglisch er sich der Öffentlichkeit präsentieren will. Wenn er so blöd ist und einen Stil wählt, der von der Allgemeinheit überwiegend abgelehnt wird: selbst schuld. Es zwingt ihn keiner dazu. Oder wer hat den Konzern XY gezwungen, einen englischen Slogan zu wählen?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 22.10.2006 um 11.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#6490

Also selbstverständlich gibt es das Fußvolk, das sprachlichen Anweisungen folgen muß, nicht nur orthographischen. Die Lohnempfänger fallen folglich in die Kategorie niemand, die Geschäftsführer hingegen in die Kategorie jedermann.
 
 

Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 22.10.2006 um 12.58 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#6491

Durchgedacht

Gemäß dem Angedachten von R.M. ist es völlig loyal, wenn „niemand“ auf „jedermann“ hört.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 22.10.2006 um 19.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#6493

Warum wollen Sie mir denn unbedingt am Zeug flicken, Herr Markner? Ich habe neulich ganz selbstlos ca. 100 von diesen Spam-Beiträgen gelöscht, da könnte man ruhig auch mal großzügig mit mir umgehen.

Also, meine Logik ist wie folgt: Selbstverständlich werden Angestellte allen möglichen Anweisungen und Vorschriften unterworfen. So wie Bürger selbstverständlich allen möglichen Gesetzen und Verordnungen unterworfen werden. Dabei ist nicht gesagt, daß das immer oder überwiegend sinnvolle Anweisungen sind, aber jedenfalls ist der Gesetzgeber bzw. die Geschäftsführung eines Unternehmens berechtigt, mit den Untertanen auf autoritäre Weise umzugehen. In den seltensten Fällen handelt es sich dabei um Sprachregelungen; bis 1996 hatte der Staat sprachlich überhaupt nichts zu melden. Und wenn in einem Unternehmen etwas sprachlich festgelegt wird, dann sind das in der Regel Bezeichnungen von Produkten und Dienstleistungen. Die sind öfter als genug englisch, das stimmt, und das entspricht einer verbreiteten Mode. Die Angestellten werden nun die Produkte so nennen, wie sich das die Geschäftsführung oder die Marketingabteilung im Einvernehmen mit der Geschäftsführung ausgedacht hat. Ebenso sind die Kunden und im weiteren die ganze Öffentlichkeit "gezwungen", diese Bezeichnungen zu übernehmen, wenn sie ein solches Produkt kaufen oder darüber sprechen wollen.

Gut, das kann man als Zwang einordnen. Es ist derselbe Zwang, mit dem ich einen Tisch einen Tisch nennen muß, um verstanden zu werden. Die ganze Sprache ist so gesehen ein Zwangssystem für alle Teilnehmer. Was soll diese Perspektive? Diejenigen, die ihr Kind Jennifer oder Justin nennen, statt ihm einen schönen deutschen Namen wie Wolfgang oder Reinhard zu geben, tun das aus freiem Willen. Meine Umgebung ist "gezwungen", mich Wolfgang zu nennen, andere werden gezwungen, jemanden mit Justin anzureden. Aber soll man hier von Zwang reden?

Die Geschäftsführung ist jedenfalls frei, zum Beispiel einen Tarif "call & surf" zu nennen. Wenn sie ihn "Telefon & Internet" getauft hätte oder "Gespräche und Erkundungen des Weltznetzes", wären wiederum alle Betroffenen gezwungen gewesen, der Bezeichnung hinterherzulaufen. Es handelt sich also um den Zwang, einmal gewählte Bezeichnungen zu übernehmen, egal ob im normalen Sprachgebrauch oder innerhalb einer Firma. Das ist kein direkter Zwang, den eine Mode ausübt, sondern der ganz normale sprachliche Anpassungszwang. Es gibt ihn immer, egal ob die Bezeichnung einer Mode folgt oder ob sie sich gegen die Mode stemmt oder ob sie undefinierbar viel oder wenig mit einer Mode zu tun hat.

Und wäre "Fahrkartenschalter" wirklich besser als "Ticket Counter"? Am Flughafen redet jeder ganz freiwillig von Tickets und Terminals, im Kino und für Konzerte gibt es Tickets, was ist also dabei? Auch in großen Bahnhöfen bewegt sich die internationale Welt. Was ist daran schlimm, wenn es auch für den Schienenverkehr Tickets geben soll? Ich kann das nachvollziehen. Gestern sagte mir jemand, man wisse nicht, ob die ökologischen Schäden des Flugverkehrs nicht dadurch vielleicht ausgeglichen seien, daß dieser die Menschen in andere Länder bringt, wo sie sehen können: Auch die in der Fremde sind ganz normale Menschen, Fremdenverachtung und Ausländerfeindlichkeit sind fehl am Platz. Man sollte international mehr miteinander reden, sprachlich einander entgegenkommen – was liegt näher als Englisch? Auf dieser Linie bewegt sich die freundliche Verwendung von Internationalismen wie "Ticket" anstelle von "Fahrschein". So könnte man es auch sehen. Von kaputtem Deutsch würde ich jedenfalls nicht reden, wenn Bezeichnungen wie Computer, Ticket oder auch Counter verwendet werden.

Also, dieser Zwang, auch mehr oder weniger englische Begriffe zu verwenden, ist letztlich auch nichts anderes als der Zwang, deutsche Begriffe zu verwenden, die irgendwann einmal aus diversen Quellen zu uns gekommen sind und sich etabliert haben. Man kann hier auch von ganz natürlichen Anpassungsprozessen sprechen, die zum größten Teil automatisch ablaufen und nur zum geringsten Teil gesteuert werden. Sie dienen der Verständigung.

Etwas ganz anderes ist die Rechtschreibreform. Hier handelt es sich um einen künstlichen, autoritären, unerhörten Eingriff des Staates, der die schriftliche Verständigung erschwert und der alle Beteiligten mit verschiedenen Nachteilen belästigt. Um diesen gravierenden Unterschied ging es mir. Ich räume aber gern ein, daß man auch in dem weniger gravierenden Fall der Anglizismen von Zwängen reden kann. Konsequenterweise sollte man dann aber die Sprache insgesamt als Zwangssystem deuten; und das halte ich nicht für besonders hilfreich, wenn es darum geht, ungerechtfertigte Eingriffe in die Sprache zu kritisieren.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 22.10.2006 um 21.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#6495

Der Vollständigkeit halber:

Wenn Angestellte angewiesen werden, bestimmte Bezeichnungen zu verwenden, handelt es sich nicht um eine Mode, unter deren Zwang sie stehen, sondern um eine Anweisung, die sie befolgen sollen. Sofern es sich bei Anglizismen (noch) um eine Modeerscheinung handelt, ist jeder frei, sich ihr anzuschließen oder sie abzulehnen, wie gesagt.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 23.10.2006 um 00.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#6496

Vielen Dank für die Beteiligung an der Müllbeseitigung!

Zeugflickerei ist nicht meine Absicht, aber die These Von oben herab wird niemand gezwungen, kaputtes Deutsch zu verwenden mag ich nun einmal nicht unwidersprochen durchgehen lassen. Man kann doch nicht einfach den Begriff Zwang auf staatliche Anordnungen reduzieren (nach herrschender Lehre sind wir übrigens Bürger dieses Staates, nicht die Untertanen des Gesetzgebers) und alle anderen Zwänge, und seien es eingebildete (die ja nicht selten die wirkmächtigsten sind), für inexistent oder gar selbstverständlich erklären. Der Versuch, das Funktionieren der Sprache überhaupt als Zwangssystem zu beschreiben, fällt geradewegs ins andere Extrem.

Wie Sie jetzt einräumen, ist die einseitige Sicht auf die Sprecher und Schreiber auch nicht in Ordnung. Die Adressaten der anglomanischen Sprachschöpfungen unserer Tage können sich der Geschmacklosigkeiten meist nicht erwehren, so wenig wie die Leser orthographisch entstellter Texte. Wer in der Regionalzeitung die Rubrik Tipps and Trends entdeckt, wird doppelt zum Opfer.

Nebenbei bemerkt halte ich es nicht für angemessen, hinter jedem mehr oder minder ungeschlachteten Protest gegen sogenannte Anglizismen ein Ablenkungsmanöver zu vermuten, das die Kritik an der Rechtschreibreform vergessen machen soll, auch wenn es natürlich entsprechende Vorfälle gegeben hat.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 23.10.2006 um 07.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#6499

Ich denke, wenn man die Beiträge von Herrn Markner und mir zusammennimmt, bekommt man ein recht differenziertes Bild. Mich treibt dasselbe an wie Herrn Markner: Ich mag zu wenig differenzierte Behauptungen nicht unkommentiert stehen lassen, etwa: "Keine Mode ohne Zwang."

Die Bezeichnung von Bürgern und Angestellten als Untertanen war natürlich eine bewußte Zuspitzung, um klar zu machen: Man hat in bestimmten Rollen eben zu gehorchen, oder man handelt sich Probleme ein. Die herrschende Lehre, wir Bürger seien dem Gesetzgeber nicht untertan, ist Märchenstunde. Versuchen Sie mal, Ihre Steuern nicht zu bezahlen, Sie werden sehen, was dabei herauskommt. Da hilft es Ihnen nicht weiter, wenn Sie sagen: "Wir sind alle Bürger und keine Unertanen des Gesetzgebers."

Es geht hier um die Unterscheidung von Zwang und Freiheit in der Sprache. Das ist eine Frage der Perspektive. Man kann, wenn schon, ins Extrem gehen und die ganze Sprache als Zwangssystem begreifen, wie ich es zuletzt ausgemalt habe, um den Nachteil der pauschalen Rede vom Zwang zu verdeutlichen.

Man kann andererseits, wie ich es zuerst getan habe, herauszustellen versuchen, wo unnatürliche Zwänge bestehen, die so genannt werden müssen. Das halte ich gerade im Blick auf die Rechtschreibreform für aufschlußreicher.

Wir haben über die Jahre an alle möglichen Adressaten, eigentlich an alle und jeden appelliert, sich der Rechtschreibreform zu verweigern. Diese Aufforderung war nur möglich, weil mit Ausnahme der Schullehrer und damit der Schulbuchverlage niemand vom Staat gezwungen wurde, die Rechtschreibreform anzuwenden. Zum Zwang für viele Anwender wurde die Reformschreibung erst dadurch, daß ein Verlagschef nach dem anderen, ein Geschäftsführer nach dem anderen beschlossen hat, sie in seinem eigenen Haus verbindlich zu machen. Dazu war er nicht verpflichtet, und er könnte den Beschluß jederzeit revidieren, wie es ja auch vorkam (Frankfurter Allgemeine Zeitung).

Aus diesem Grund können wir uns gegen die Reform nicht wehren. Wir können nirgends außer im Schulbereich den Vorwurf erheben, daß Zwang herrsche. Es wird immer heißen: Wendet euch an die Geschäftsführung des Verlags oder des Unternehmens – sie war nicht gezwungen, die Reform umzusetzen, sie hat es freiwillig so beschlossen. Und, können wir etwas dagegen sagen?

Im Endeffekt laufen tatsächliche und eingebildete, laufen vom Staat und von vielen einzelnen Entscheidern eingerichtete Zwänge auf dasselbe hinaus: Ein Verhalten wird erzwungen, es gibt beim Handelnden keinen freien Willen mehr. Trotzdem sollte man unterscheiden: Ist der Zwang tatsächlich vorhanden, ist er eingebildet? Und wenn er nicht nur eingebildet ist, von wem geht er aus?

Dann zeigt sich der Gewichtsunterschied zwischen Elefant und Rennmaus: Der Zwang, die Reform anzuwenden, ist viel mächtiger als der Zwang, modische Anglizismen selbst zu verwenden. (Dasselbe gilt für andere Nachteile der beiden Erscheinungen.) Deshalb bin ich dagegen, beides im selben Aufwasch zu behandeln oder übertriebene Klagen über den allgemeinen Verfall der deutschen Sprache anzustimmen, der auch unabhängig von der Rechtschreibreform festzustellen sei.

Für die Rechtschreibreform ist typisch, daß sie mit einem Federstrich für ganze Verlage und ganze Unternehmen angeordnet wurde, gegen den Willen der breiten Mehrheit und der jeweils Betroffenen. Es gibt keinen vergleichbaren Befehl von oben, daß die Belegschaft eines Hauses in Zukunft gefälligst so konsequent wie möglich Anglizismen zu verwenden habe. Von einer flächendeckenden Verseuchung der deutschen Sprache durch solche rücksichtslosen Anordnungen kann man im Fall der Rechtschreibreform ohne weiteres sprechen, im Fall der Anglizismen überhaupt nicht. Für letztere gilt fast ausschließlich: Die Leute sprechen so, wie sie wollen.

Und wenn man das der Griffigkeit halber etwas verkürzt ausdrückt, dann kommt man zu dem Ergebnis: Die Rechtschreibreform ist im Endeffekt ein Zwangssystem; Anglizismen setzen sich von selber durch. Eine Zwangsuniform ist anders zu bewerten als eine Mode.
 
 

Kommentar von Nur ein Satz von Ballistol, verfaßt am 23.10.2006 um 10.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#6500

Da ich mich redlicherweise bei dem von mir angezettelten Streit auch mit in die Schlacht werfen will, hier noch folgende Ergänzung: Redakteure, insb. Chefredakteure, auch solche zweifelhafter Kompetenz, ferner Lektorate und Agenturen – sie rufen nahezu unisono nach kurzen, klaren Sätzen in möglichst einfachem Deutsch; Herr Markner weiß, daß er viel mehr kann, und ich weiß es von mir auch: also fühlen wir uns gegängelt und Zwängen unterworfen, deren Destruktivität uns sehr bewußt ist, während – allmählich erst, doch mit zunehmender Amplitude – aus den Resten des Bildungsbürgertums neuerlich der Wunsch nach komplexem, geschliffenem Ausdruck zu vernehmen ist, was man aber auch nicht überschätzen darf.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 23.10.2006 um 11.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#6503

Der staatliche Zwang zur Befolgung der Rechtschreibreform hat seine ziemlich engen Grenzen; trotzdem bilden sich viele ein, gehorchen zu müssen, unter ihnen auch solche, die wiederum anderen sprachliche Anweisungen geben können. Daß hier ein Beschluß der KMK als eine Art Letztbegründung fungiert, ändert nichts daran, daß man die orthographische Folgsamkeit als Ergebnis der Wirkung eingebildeter ebenso wie durchaus realer Zwänge betrachten muß. Und das ist durchaus vergleichbar mit der Wirkungsweise der Anglomanie, auch wenn diese kein im staatlichen Auftrag entworfenes Gesamt(wahn)system darstellt. Daß die Vorgänge in jeder Hinsicht identisch sind, hat ohnehin niemand behauptet.

Was regt ihr euch so über die Rechtschreibreform auf? ruft, sinngemäß, Walter Krämer. Die Angesprochenen antworten: Was regen Sie sich so über Anglizismen auf? Aus diesem Dialog kann nichts werden.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 23.10.2006 um 12.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#6504

Jetzt kann ich Herrn Markner nicht mehr widersprechen, selbst wenn ich wollte. Ballistol möchte ich nur insofern widersprechen, als ich die besondere Kunst von Herrn Markner darin sehe, wie kurz und bündig er formulieren kann; trotzdem habe ich fast nie das Gefühl, daß etwas fehlt. Wieviel muß ich reden und mich drehen, um ihm mal ein paar Worte mehr als üblich zu entwinden! Das ist harte Arbeit.
 
 

Kommentar von AFP, Hamburg, 18.09.2007, verfaßt am 02.10.2007 um 03.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=673#10343

SPRECHEN WIR ZUVIEL DENGLISCH?

Koalition will gegen englische Wörter im Alltag vorgehen

Chill-out, Call-Center, Check-in: Englische Begriffe verfolgen und begleiten uns in jeder Lebenslage. Nimmt "Denglisch" überhand? Die große Koalition ist offenbar dieser Meinung, denn sie will die Flut englischer Wörter im Alltag eindämmen.
Laut "Saarbrücker Zeitung" bereiten die Koalitionäre einen Antrag vor, wonach in öffentlichen Gebäuden, auf Flughäfen und Bahnhöfen künftig "durchgehend, nicht notwendigerweise ausschließlich" die deutsche Sprache verwendet werden soll. Insbesondere auf Flughäfen und Bahnhöfen sei Deutsch Randsprache geworden, heißt es in dem Papier. So benutzt die Bahn in ihren Reisebegleitblättern Begriffe wie "DB Carsharing", "Call a bike Standort" oder "Service Point". Dies sei "unzumutbar".

"Gegen soziale Ausgrenzung"

Der Antragsentwurf befindet sich momentan in der Abstimmung beider Fraktionen. Darin wird demnach kritisiert, dass mittlerweile in Schulunterricht, Arbeitswelt, Wissenschaft und Öffentlichkeit "7000 angelsächsische Begriffe und Ausdrücke ihre deutschen Gegenstücke" ersetzen. Rund ein Drittel der Deutschen könne aber mit den englischen Wörtern nichts anfangen. "Es geht gegen soziale Ausgrenzung, nicht um Deutschtümelei", sagte die verbraucherpolitische Sprecherin der Union, Julia Klöckner (CDU) dem Blatt.

Jeder Dritte kann mit Anglizismen nichts anfangen

Auch bei Gebrauchsanleitungen und in der Werbung würden inzwischen Millionen von Menschen ohne Englischkenntnisse ausgegrenzt. Rund ein Drittel der Deutschen kann mit englischen Ausdrücken nichts anfangen. Nach dem Willen der Koalitionsfraktionen soll es dem Bericht zufolge deshalb freiwillige Vereinbarungen mit der Wirtschaft geben, um das Englische zurückzudrängen. (fw)
 
 

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