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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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07.06.2014
 

Grammatische Exerzitien 9
Der Artikel

Sehr kurze Übersicht über den Artikelgebrauch im Deutschen
Der Artikel ist ein im Singular genusflektiertes Wort, das vor Substantiven bzw. Nominalgruppen steht. Er dient einerseits dazu, das Substantiv zu determinieren, andererseits verdeutlicht er dessen Kasus und Numerus, nachdem die Substantivendungen im Deutschen weitgehend abgebaut worden sind.

Im engeren Sinne gibt es vier Artikel:

den bestimmten Artikel (der)
den unbestimmten Artikel (ein)
den Negationsartikel (kein)
den Possessivartikel (mein)

Nicht damit zu verwechseln sind die Pronomina der, einer, keiner und meiner, die z. T. abweichende Flexionsformen haben (s. Anm. 6). Weitere Pronomina können in determinierender Funktion gebraucht werden (dieses Buch), z. T. auch in Verbindung mit dem Artikel (dieses mein Buch, manch ein Schriftsteller).
Der bestimmte Artikel bezieht die Substantivgruppe auf einen für den Hörer bereits identifizierten (vorerwähnten oder anderweitig bekannten) Gegenstand, der unbestimmte Artikel führt einen Gegenstand neu in die Rede ein.
Der bestimmte Artikel kann sich auf einen bestimmten Einzelgegenstand oder auf die Gattung beziehen (generischer Gebrauch).
Der bestimmte Artikel kann mit Präpositionen verschmolzen auftreten, z. T. unauflösbar: zum Schluß.
Der unbestimmte Artikel hat keine Pluralformen.
Der unbestimmte Artikel ist ebenfalls zweideutig. Einerseits bezeichnet er beliebige Gegenstände, andererseits bestimmte für den Sprecher, aber nicht für den Hörer identifizierte Gegenstände:
Ich suche ein Feuerzeug (1. 'irgendeines', 2. 'ein bestimmtes')
Diese Zweideutigkeit entfällt bei
Gib mir ein Feuerzeug! (nur = 'irgendeines')
Der Hörer kann nicht aufgefordert werden, etwas zu identifizieren, was nur dem Sprecher bekannt ist. Wäre es auch dem Hörer bekannt, stünde der bestimmte Artikel.

Artikellosigkeit ist bei Aufzählungen bekannter Gegenstände üblich:
Sie nahmen darauf alle Korb und Seil und gingen zu der Felsenhöhle. Mit Messer und Gabel essen.
Auch Koordination artikelloser mit artikelhaltigen Substantivgruppen ist möglich:
Er beschrieb anschaulich, wie sich Bundestag und insbesondere der von ihm vertretene Europa-Ausschuss mit dem Gemeinschaftsrecht befasst hatten. (SZ 11.2.09)
In Schlagzeilen wird der Artikel oft weggelassen:
Mann erschießt in Heim Ehefrau und Pflegerin – Klage wegen Thrombose durch Pille gescheitert – Mutmaßlicher Dieb von Polizist erschossen (alle FAZ 30.7.02)
Der Artikel fehlt in vielen verbalen Phraseologismen (auch Funktionsverbgefügen): Stellung nehmen, zu Papier bringen, in Schrecken versetzen, in Angriff nehmen.

Man sagt Zeitung lesen, aber nicht *Buch lesen, denn die Zeitung ist weniger individualisiert, daher wird eher die Eigenart der Tätigkeit als deren Gegenstand hervorgehoben.

Artikel bei Eigennamen

Eigennamen sind inhärent determiniert, brauchen daher keinen Artikel. Der in Süddeutschland in gesprochener Sprache übliche bestimmte Artikel erhöht den Eindruck der Bekanntheit oder Vertraulichkeit:
der Hans

Der bestimmte Artikel zerlegt das Individuum in mehrere Phasen, Aspekte o. ä. („Alloindividuen“):
der junge Goethe (spezifizierend)
das heiße Indien (charakterisierend)
Der unbestimmte Artikel macht aus der Individuenbezeichnung eine Typbezeichnung
ein Mozart

Personalartikel

In Verbindung mit Nominalgruppen können die Personalpronomina artikelähnlich gebraucht werden. Im Singular liegt dann fast immer eine wertende Bedeutung vor: ich Dummkopf, du Esel:
Ich Rindvieh hätte mich auf diesen Rat eines anderen Rindviehs nie einlassen dürfen!
(FAZ 26.1.93)
du ahnungsvoller Engel (Goethe)
Wir Menschen sind immer in Geschichten verstrickt. (Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Hamburg 1953:1)
Adjektive (auch substantivierte) werden im Singular stark, im Plural teils stark, teils schwach gebeugt:
Lässig gehe ich moderner Mensch mit meiner Elektronik um. (SZ 10.5.85)
Meine Mutter und ich Neugeborener kehrten nach getaner Arbeit in die DDR zurück. (Zeit 12.11.93)
Wir Deutsche sind ein Volk von Kranken. (FAZ 22.7.82)
Nur wir Deutschen, wir wollen alles anders und besser machen. (FAZ 28.12.84)
Das Pronomen der dritten Person kommt fast nur in indirekter und erlebter Rede vor:
Und er Idiot ist grusslos an ihnen vorbeigegangen. (Martin Suter: Richtig leben mit Geri Weibel - Die Supernova. NZZ Folio)
Er äußerte sich ungehalten über die Zudringlichkeit, die man gegen ihn alten Mann ausübe ...(Karl August Varnhagen von Ense: Biographische Denkmale. Verlag G. Reimer, 1826)


Anmerkungen
1. Zur Verschmelzung des Artikels mit Präpositionen s. Verschmelzung.
2. Bei Phraseologismen mit um steht der (verschmolzene) bestimmte Artikel: ums Leben kommen; solche mit außer und unter haben keinen Artikel: außer Gefecht/unter Druck setzen.
3. Bei manchen Phraseologismen kann mit dem Negationsartikel verneint werden:
Beide Firmen wollten zu dem genauen Kaufpreis keine Stellung nehmen. (SZ 2.1.98)
Aber:
Der als streng konservativ geltende Kardinal hatte zu den Beschuldigungen nicht Stellung genommen. (SZ 5.1.98)
4. Die Nichtsetzung des Artikels wird von manchen Grammatikern als Setzung eines „Nullartikels“ aufgefaßt. Diese Ansicht wird hier nicht geteilt.
5. Die Bezeichnung „unbestimmter“ oder „indefiniter“ Artikel ist etwas irreführend, da dieser Artikel in einer seiner Lesarten durchaus etwas Bestimmtes, nämlich dem Sprecher Bekanntes markiert.
6. Der bestimmte Artikel ist vom Demonstrativpronomen der/die/das zu unterscheiden, mit dem er in den meisten Formen übereinstimmt: Die Ohren des Esels sind länger als die des Pferdes. Hier nimmt Blatz das Pronomen (= diejenigen) und nicht den Artikel an (Blatz II 182). Das erkennt man auch an den eindeutigen Formen (denen). Die Fügung ist also nicht elliptisch zu verstehen.

Die Verschmelzung ist schon mehrmals kurz besprochen worden: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1418

Ich fasse noch einmal zusammen:

Der unbetonte bestimmte Artikel kann in verkürzter Form enklitisch an Präpositionen angehängt werden.
Das m des maskulinen und neutralen Artikels tritt an die Präpositionen an, bei, hinter, in, über, unter, vor und zu, wobei es mit auslautendem n zu m verschmilzt: am, beim usw.
Das s des neutralen Artikels verbindet sich mit an, auf, durch, für, hinter, in, über, um, unter, vor: ans, aufs usw.
Das r des femininen Artikels verbindet sich mit zu: zur.
Weitere Verbindungen treten in der Umgangssprache und den Dialekten auf: übern, in'n, gegen's usw.
Verschmolzene und nicht verschmolzene Formen sind oft gleichwertig:
Die durchschnittliche bundesdeutsche Hausarztpraxis ist aufs Abgeben von Arzneimitteln ausgerichtet und nicht auf das Ändern von Verhaltensweisen. (NN 6.3.90:26)
In bestimmten Gruppen von Präpositionalphrasen ist die Verschmelzung nicht mehr auflösbar, so daß man hier die Entstehung eines neuen Formenparadigmas „flektierter Präpositionen“ zu erkennen glaubt, das allerdings aus lautlichen Gründen noch lückenhaft ist.
Das gilt zunächst für die Superlativformen am schönsten usw., ferner für die Verlaufsform mit substantiviertem Infinitiv: die Sache am Laufen halten usw.
In Verbindungen wie am Meer wohnen, am Himmel stehen wäre der bestimmte Artikel zu stark hinweisend; gemeint ist jeweils das bekannte singuläre Naturphänomen.
In einigen Fällen wäre, wenn man die Wendung wieder auflösen wollte, eher der unbestimmte Artikel angebracht: sich zum Künstler ausbilden, jemanden zur Schnecke machen, zum Abschluß kommen. (Vgl. Blatz I:615 ) Das liegt daran, daß „der bestimmte Artikel seine hinweisende Kraft“ verloren hat (Blatz). Damit hängt das folgende Problem zusammen:
Wird die Präpositionalphrase durch einen Attributsatz oder einen anderen Ausdruck näher erläutert, so daß der Artikel mehr oder weniger korrelative Funktion hat, dann gilt die Verschmelzung vielen präskriptiven Grammatiken als nicht korrekt. Nach Wahrig (Fehlerfrei 479) soll falsch sein: Er arbeitet im Garten, der seinem Vater gehört, nach Duden Fritz ist jetzt im Haus, das er sich letztes Jahr gebaut hat (Dudengrammatik 1998:324). „Die Verschmelzungsform kann nicht verwendet werden, wenn es sich um eine definite und spezifische Nominalgruppe handelt: Sie ging zu dem/*zum Zahnarzt, den man ihr empfohlen hatte.“ (Ludger Hoffmann: Handbuch der deutschen Wortarten. Berlin 2007:313) Ebenso Helbig/Buscha 1984:389. Solche Konstruktionen sind jedoch durchaus üblich:
Die Szene passte nicht ins Bild, das man sich von Michael Schumacher malt. (Welt 3.9.02)
Es waren Franzosen, die als erste zur Überzeugung gelangten, notfalls müßten sozialer Fortschritt, Freiheit und Zivilisation auch mit Gewalt durchgesetzt werden. (Jb. 17 der Bayer. Akademie der Schönen Künste, 2003:139)
Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass die organische Kapitalzusammensetzung ständig steigt. (FAZ 4.7.13)
Die Koordination von verschmolzenen und unverschmolzenen Formen bei Abhängigkeit von derselben Präposition gilt ebenfalls als anstößig. Blatz I:615 nennt sie lediglich „ungenau“ (Ich erkannte ihn gleich am Gange und der Haltung (statt an der). Vgl. Dudengrammatik 2005:624 („nicht üblich“).
Sie ist gleichwohl sehr häufig:
Interesse am Schicksal und der Meinung der einzelnen (Peter C. Ludz: Mechanismen:200)
Zur Entwicklung des Dudens und seinem Verhältnis zu den amtlichen Regelwerken der deutschen Orthographie. (Buchtitel von Gunnar Böhme. Frankfurt 2001)
Etwas anders:
Herr Merlin im Gehrock und spitzer Magiermütze. (Kurt Tucholsky: Ges. Werke I:328)



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Kommentare zu »Grammatische Exerzitien 9«
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Kommentar von Stephan Fleischhauer, verfaßt am 09.06.2014 um 18.42 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#25992

Eine Sache habe ich nicht verstanden. mein ist ein Artikel, dieses jedoch nicht. Was ist der entscheidende Unterschied?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.06.2014 um 04.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#25993

Das Flexionsparadigma des Possessivartikels unterscheidet sich in einigen Positionen von dem des Possessivpronomens (mein Koffer vs. meiner usw.), ebenso beim Negationsartikel. Manche Grammatiker finden das nicht relevant, andere schon.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.06.2014 um 10.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26000

„Wenn solche Eigennamen irgendwie näher bestimmt sind, bekommen auch sie den bestimmten Artikel: (...) Der Sprachwissenschaftler Jacob Grimm (...)“ (Schülerduden Grammatik 2010:205)

Aber hier gehört der Artikel nicht zum Eigennamen, sondern zu Sprachwissenschaftler, vgl. die Koryphäe Jacob Grimm, das Staatsoberhaupt Joachim Gauck - wo man es auch am Genus erkennt.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 10.06.2014 um 11.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26001

Der unbestimmte Artikel "ein" ist identisch mit dem Zahladjektiv "ein", was zu Verständnisschwierigkeiten führen kann. Genauer wären "irgendein" und "ein einziger".
Wer Mißverständnisse vermeiden will, sollte bairisch reden. Dort heißt der unbestimmte Artikel "a" und das Zahladjektiv "oa".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.06.2014 um 11.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26002

Wie im Haupteintrag schon gezeigt, hat der unbestimmte Artikel nur teilweise die Bedeutung "irgendein".
Im Griechischkurs hatte ich immer Mühe, den Lernern die wörterbuchkonforme Übersetzung des enklitischen "tis/ti" als "irgendein" auszureden.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 10.06.2014 um 14.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26008

Irgendwo bei Homer: "theos ny tis ei brotos esti" (ob es ein Gott oder ein Sterblicher ist) oder so ähnlich.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.06.2014 um 14.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26009

In der Schülerduden-Grammatik wird auch behauptet, daß eins wegen seiner Bedeutung keine Pluralformen bilden kann (237). Folgerichtig werden die einen nicht angeführt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.06.2014 um 14.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26010

Denken Sie an Od. Z 149? Ich weiß leider wieder mal nicht, ob das Zitat (das übrigens nicht richtig ist) zur Bestätigung oder zur Widerlegung meines vorigen Eintrags dienen soll...
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 11.06.2014 um 11.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26021

Nach meiner bisherigen Kenntnis gibt es im engeren, eigentlichen Sinne nur den bestimmten und den unbestimmten Artikel. Der Schulstoff basierte auf der Dudengrammatik, die auch noch in der aktuellen Ausgabe die hier genannten Wortarten nur unter "Artikelwörter" zusammenfaßt.

Sprachtypologisch spricht man ja auch von artikellosen Sprachen. Ich hätte z. B. Russisch dazugezählt, aber das Possessivpronomen im Russischen funktioniert ja genau wie im Deutschen, wäre also dann auch ein Artikel. Werden nicht wesentliche Merkmale verwischt, wenn man den Artikelbegriff so weit faßt?

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.06.2014 um 14.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26023

Das wirft die interessante Frage auf, ob Wortarten überhaupt übereinzelsprachlich (universell?) definiert werden können. Ein "Handbuch deutscher Wortarten" bestreitet es schon im Titel.

Konkret: Ist ein Artikel, der in einer bestimmten Sprache regelmäßig bei Eigennamen steht, überhaupt dasselbe wie ein Artikel in einer anders verfahrenden Sprache? Ist ein bestimmter Artikel in einer Sprache, die keinen unbestimmten hat, dasselbe wie bei uns?

Eisenbergs Vorschlag, diese vier Artikel anzusetzen, kommt mir immer noch richtig vor, obwohl selbst einige seiner Schüler ihm nicht folgen wollen.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 11.06.2014 um 17.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26024

Zum artikelähnlichen Gebrauch der Personalpronomina:

Wenn der Artikel dazu dient, das Substantiv zu determinieren, dann müßte das Substantiv der Hauptbestandteil der Phrase sein. Wie man aber sieht, richtet sich das Prädikat in der Person nach dem Pronomen, nicht nach dem Substantiv:
Ich Dummkopf habe das nicht gewußt.
Du Esel hast das vergessen.
Sollte man dann nicht das Substantiv eher als eine Apposition zum Pronomen auffassen? Obwohl das Pronomen die Person bestimmt, ist es "nur" ein Artikel?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.06.2014 um 17.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26026

Gute Beobachtung. Substantive haben allerdings an sich gar nichts mit "Person" zu tun. Substantivgruppen werden per default mit der dritten Person des Prädikats verbunden. Man könnte sagen, durch den Personalartikel wird die Substantivgruppe überhaupt erst personfähig.

Andererseits betrachten viele Grammatiker die artikelhaltige Substantivgruppe als "Determinatorphrase", also mit dem Artikel(wort) als Kern.

Auch die Einschätzung als Apposition ist verbreitet, sogar am üblichsten, wenn ich recht sehe. Aber der Appositionsbegriff wird leicht überstrapaziert. Ausgeschlossen ist die appositionelle Deutung ja wohl bei wir Deutschen.

Hier ist übrigens noch ein Beispiel in der dritten Person (nicht leicht zu finden!):

Sie vier um den Familientisch ... (Christa Wolf: Sommerstück. Darmstadt 1989:171)
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 11.06.2014 um 18.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26027

Artikellose Sprachen: In vielen slawischen Sprachen gibt es statt bestimmter und unbestimmter Artikel bestimmte und unbestimmte Adjektive als Attribute. Im Neubulgarischen gibt es bestimmte und unbestimmte Substantive.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.06.2014 um 18.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26104

Ulrich Engel versuchte, z. B. den Artikelgebrauch mit Hilfe des mathematischen Mengenbegriffs zu erklären. Bei

Dieser Mann ist der Boß

liegt nach Engel die Identifikation zweier Einermengen vor. Ich halte das ganze Vorgehen für abwegig, möchte es aber an einem anderen Beispiel begründen.

Frau Schuster ist eine Lehrerin, die ihre eigene Schulzeit noch nicht vergessen hat

Hier müßte der Sprecher oder Hörer aus der Menge aller Lehrerinnen, die ihre Schulzeit noch nicht vergessen haben, zunächst eine einzelne heraussuchen und diese als Einermenge mit der Einermenge Frau Schuster gleichsetzen. Aber die Menge aller jener erinnerungsstarken Lehrerinnen ist überhaupt kein Gegenstand, der dem Sprecher irgendwie vorläge, so daß er daran irgendwelche Auswahloperationen vornehmen könnte. Vielmehr wird der Hörer angewiesen, sich eine Lehrerin mit bestimmten Eigenschaften vorzustellen (oder: im weiteren davon Gebrauch zu machen, daß sie diese Merkmale hat usw.).

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.06.2014 um 18.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26105

In seinem Gedicht über das Karussell im Jardin du Luxembourg hat Rilke bekanntlich den weißen Elefanten dreimal mit dem unbestimmten Artikel eingeführt: und dann und wann ein weißer Elephant, als ob der Beobachter nicht bemerkte, daß es immer derselbe ist. Das zusammenhanglose Nacheinander der Eindrücke ist damit sehr fein wiedergegeben.

Ich will mich hier nicht in Rilke-Interprationen ergehen. (Vor einigen Jahren rief mich ein Rilke-Herausgeber aufgeregt an: ob ich etwa auch eine Rilke-Ausgabe mache? Grund war der Eintrag in einem DAAD-Jahrbuch, wo ich als Rilke-Herausgeber bezeichnet wurde. Dabei habe ich mein Lebtag nichts mit Rilke zu tun gehabt.)

Was ich fragen wollte: aus jenem Land, das lange zögert, eh es untergeht. Das wird, wie ich sehe, durchweg metaphorisch als "Land der Kindheit" gedeutet. Aber das wäre doch ziemlich deplaziert an dieser Stelle und würde meine Wertschätzung des Gedichts ziemlich herabmindern. Gibt es Versuche, ein wirkliches Land dahinter zu erkennen, vielleicht ein Land, aus dem damals (1906) solche Karussells zu kommen pflegten?
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 21.06.2014 um 19.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26106

Vermutlich sind orientalisch aufgeputzte Pferde gemeint, also solche aus dem Osmanischen Reich.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.06.2014 um 04.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26107

So etwas habe ich mir auch gedacht, kenne aber weder Rilke noch die damalige Situation gut genug, um zu wissen, ob das damals gleich so verstanden werden konnte. Jedenfalls scheint es mir künstlerisch fast unmöglich, daß Rilke an dieser Stelle eine solche Reflexion über die Kindheit einschiebt und damit vorwegnimmt, was der Leser sich selbst denken soll. Deshalb war ich auch sehr erstaunt, daß "die Kindheit" als Auflösung einer simplen Metapher allgemein angenommen und in Schulen als Antwort auf eine entsprechende Prüfungsfrage erwartet wird.

So ein Karussell soll es dort immer noch geben; ich habe es aber, wenn ich mich recht erinnere, nicht gefunden, als ich vor über 50 Jahren zum erstenmal im Jardin du Luxembourg war.
 
 

Kommentar von Sigmar Salzburg, verfaßt am 22.06.2014 um 07.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26108

Aus dem Land der (heilen, kindlichen) Phantasie?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.06.2014 um 13.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26109

Es geht aber doch um ein ganz konkretes Karussell und nicht um eines der Phantasie oder der Erinnerung. Die Schausteller kamen damals vielleicht überwiegend vom Balkan...

Das Allerfeinste an diesem Gedicht ist wohl das Wort "herüber" (noch einmal aufgegriffen in "hergewendet"). Da sieht man die kleinen Mädchen, die eben schon fast junge Mädchen sind und eigentlich zu alt für das Kinderkarussell. Sie schauen, beinahe noch unbewußt, schon mal zum männlichen Beobachter herüber, weil sie wissen wollen, wie sie auf ihn wirken. Darum auch das "kleine, kaum begonnene Profil" (typischer Rilke-Reim). Die Melancholie, die über der Szene liegt, weil die Kindheit, die den Kindern selbst ewig vorkommt, nun endet, wird ganz wie im wirklichen Leben gemildert durch die Erwartung einer neuen Lebensphase, die ja auch ihre Reize hat...

Der Trick mit dem wiederholten Elefanten, um die Drehbewegung abzubilden, ist vielleicht eine Spur primitiv und nicht wiederholbar, aber dieses eine Mal lassen wir es gern durchgehen, nicht wahr?

Mit meinen unbeholfenen Paraphrasen möchte ich noch einmal sagen, wie unwahrscheinlich mir die Deutung "alle aus der Kindheit" gleich am Anfang vorkommt.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 22.06.2014 um 14.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26110

Aber warum sollte ein wirkliches Land zögern unterzugehen? Also abwägen, ob es freiwillig untergeht? Wird es nicht eher versuchen, den Untergang zu verzögern, dagegen anzukämpfen, in der Hoffnung ihn zu verhindern?

zum Thema Artikel:
Das Relativpronomen wird ja auch leicht mit dem Artikel verwechselt. Hier ein Beispiel aus der SZ, 20.6.14, Seite 2, m. E. falsch gebraucht, denn da muß im Nebensatz der Plural stehen, außerdem hätte ich ersten klein geschrieben:

Er war einer der Ersten, der die Riesending-Höhle betrat.
 
 

Kommentar von Sigmar Salzburg, verfaßt am 22.06.2014 um 15.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26112

Die Karussell-Figuren entstammen der damaligen traditionellen Kinderpielzeug-Phantasiewelt. Ihre angedeutete Erwähnung scheint mir sinnvoll als vorbereitende Einleitung für die Aufzählung der folgenden wundersamen Dinge – angespannte Pferde, die Mut zeigen, grimmige rote Löwen, die aber nicht wirklich gefährlich sind usw...
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 22.06.2014 um 16.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26113

Ein Pferdekarussell dieser Art stellt die Manege dar, und ein Zirkus ist traditionell ein Ort morgenländischen Zaubers.

Die Agonie des Osmanischen Reiches war im übrigen ja kein Geheimnis. Seit Jahrzehnten hatte es immer weiter an Boden verloren. Als Rilke das Gedicht schrieb, standen die Revolution und die Balkankriege unmittelbar bevor.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.06.2014 um 21.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26114

Danke für diese ergänzenden Bemerkungen. Die Kindheit zögert erst recht nicht, bis sie untergeht, und sie geht auch nicht unter.
Das Ende der Kindheit wird im Gedicht auf eine viel subtilere Art angedeutet; da wäre es ja plump und geradezu widersinnig, dies schon in so direkter Erwähnung vorwegzunehmen.
Von einem Schiff, das schon halb abgesoffen ist, kann man wohl den Eindruck haben, daß es zögert, unterzugehen. So auch von einem Land, aber nicht von der Kindheit. Das ist jedenfalls mein Eindruck, endgültige Beweise sind ja hier kaum zu erhoffen. Vielleicht findet ein Rilkekenner mal was Prosaisches zum Thema. (Einige Stellen etwa hier: http://www.islamische-zeitung.de/?id=485)
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 22.06.2014 um 22.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26115

Genau wie mit dem sehr feinen "herüber" die Perspektive der Mädchen gekennzeichnet wird, die, "helle, diesem Pferdesprunge / fast schon entwachsen" sind, wird mit "aus dem Land, das lange zögert, eh es untergeht" (nicht *aus jenem Land* [#26105]!) die Perspektive des inneren Sprechers angezeigt, dem dieses Land ein immer noch sehr liebes ist, von dem er aber mehr und mehr erfährt, daß es für ihn nicht mehr real ist. Die Zusammenfassung "Land der Kindheit" ist zwar etwas schwerfällig (typisch Punkt auf einem Lehrplan), aber was damit gemeint ist (einst war's auch das des inneren Sprechers, und daß der kindliche Ritt, der einst [ich verwende hier bewußt dieses für die Romantik so wichtige Zeitadverb] auch zu seinem Bestand gehörte, von den jetzt beobachteten Kindern als wirklich erlebt wird und den hellen Mädchen unter ihnen als schon etwas fraglich) und wie das gebracht wird, mindert meine Wertschätzung dieses neoromantichen Gedichts keinesfalls. Das täte für mich jedoch jede Interferenz von Nachrichten aus der Tageszeitung oder detaillierteren Erklärungen zur Karussellgeschichte.

 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 22.06.2014 um 23.44 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26116

Bitte die Germanisten beim Träumen nicht stören!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.06.2014 um 04.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26117

Aber Herr Ludwig! Meinen Sie wirklich, daß die Mädchen "helle" im Sinn von "gescheit" sind?

Ich will noch einmal anmerken, daß ich mich nicht besonders wohl fühle, wenn ich hier so auf einem mir ganz unvertrauten Gebiet herumtappe. Aber manchmal sollte man ruhig seine unverbildeten Eindrücke artikulieren, die Dichter schrieben ja früher auch nicht in erster Linie für Germanisten und Lesebücher. Ich habe jenes "Land" fast 60 Jahre lang nie anders verstanden und war jetzt sehr verblüfft, in den Kommentaren unisono eine mir ganz unpassend, am konkreten Ort auch künstlerisch verfehlt scheinende Deutung anzutreffen (ungesucht, denn es ging mir ja um den unbestimmten Artikel). Daher mein Widerspruch, aber ich will das Ganze auch nicht zu ernst nehmen.

Unser Deutschlehrer hat außer dem "Panther", wenn ich mich recht erinnere, "Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens" mit uns "durchgenommen", ich habe sogar etwas darüber geschrieben. (Gelabert wurde damals nicht, unser Deutschunterricht hatte eigentlich, verglichen mit heute, ein schwindelerregendes Niveau; dazu kam ja noch die freilwillige, gut besuchte Arbeitsgemeinschaft über den Faust-Stoff, mit vollständiger Lektüre von Volksbuch, Leverkühn u. a., Studienreise nach Wolfenbüttel usw. - wir schraken vor nichts zurück.)
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 27.06.2014 um 13.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26170

Aber, aber! Meint wer wirklich, daß bei den Mädchen in den schönen auch sogar weißen Kleidern hier "helle" mit der Konnotation "aufmerkend / etwas richtig bemerkend / etwas Richtiges ahnend" so ganz ausgeschlossen ist? Zur Gleichsetzung von "helle" mit "gescheit": Bei "gescheit" ist schon alles entschieden; bei "helle" ist aber so einiges vorsichtig, aber richtig ausmachend durchaus möglich. Aber was weiß ich, was übrigens der innere Sprecher hier in das projeziert, was sich ihm da als farbenflimmerndes Schauspiel bietet. Auf jeden Fall ist er erstmal nicht mit dem Dichter gleichzusetzen. Dieser ist schließlich für den Leser kein *Seher* für Lebensart oder sowas, sondern einer, der kunstfertig schreiben kann und damit Leser mit hohen Ansprüchen mit sprachlichem Kunstwerk unterhält. Vielleicht genügt Rilke hier nicht den höchsten Ansprüchen, mich stört "dem" hier aber gar nicht; es steht eben nicht für "jenem, jenem bewußten". Ich hake eher ein, wenn da der Sommer "sehr groß" war, und in meinem Literaturseminar lachten wir, weil der Leiter aufzeigte, daß, wenn man dem dreifachen "reiten" ein viertes hinzufügte, die Schwelle zum Kitsch überschritten wäre. Aber in dem Text da ist "die Sehnsucht so groß", und an diesem "groß" ist ohne Zweifel nichts zu beanstanden. Doch auf welche Weise der Sommer auch immer groß war (denn so einiges ist zu Recht groß bei Rilke), - "helle" kann im Park hier sicher mehr bezeichnen als nur die Farbtönung der Kleider wohlerzogener Mädchen, auch wenn diese sich vielleicht noch nicht ganz in dem gespannten Alter befinden, in welchem man sehr wohl auf delikate Gedanken verfallen kann. Das und auch das mit dem bewußt kreierten inneren Sprecher in diesem *Jardin* hatte ja auch Rilke damals schon weit über zwei Jahre wissen können. Was scheinbar bleibet aber, ist, daß "helle" bei den unscharfen Sichtverhältnissen an diesem für bürgerliche Erholung eingefriedeten Landstück für solide Schularbeit farbimpressionistisch noch am besten erklärt werden kann.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 27.06.2014 um 14.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26172

Im nächsten Schritt müßte man konzedieren, daß die »blauen Mädchen« dann also auch besoffen sein könnten.
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 27.06.2014 um 16.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26174

Ich meine, lieber Herr Markner, daß ein Germanist derartige Sicht des inneren Sprechers auf das eine kleine blaue Mädchen da seltsam finden würde. Schließlich wird sie im Text von nichts drumrum unterstützt. Oder meinten Sie mit Ihrem Konj. II der Höflichkeit, daß auch für dieses gelte, alles bei ihm "kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel"? Vorsichtshalber angeschnallt wäre es ja wenigstens.

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.07.2014 um 10.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26230

Wie schon gesagt, ist der Plural der Substantive im Deutschen meistens recht gut gekennzeichnet, aber ohne den Artikel kommt es trotzdem oft zu Mehrdeutigkeiten, besonders also im Telegrammstil der Überschriften. So liest man jetzt überall NSA spähte Erlanger Studenten aus o. ä., obwohl es nur einer war (schlimm genug).

Aus meinen Sammlungen:

Gutachten belastet Prinzen (SZ 15.9.09)
Gemeint ist nur ein einziger Prinz, Ernst August von Hannover. Ähnlich:
Ohnesorgs Todesschützen droht Kürzung der Pension (SZ 26.5.09; es gab nur den einen Todesschützen Kurras)
Empörung über Mord an Bonner Spitzenbeamten (SZ 9.10.86; es ist nur einer ermordet worden)
Jahrelang hat sich die Welt an Irans Präsidenten gerieben. (SZ 11.5.09; gemeint ist Präsident Ahmadinedschad)
Dasselbe bei stark deklinierten Substantiven im Nominativ und Akkusativ:
Flutwelle reißt Arbeiter in den Tod (MDR 13.8.10)
Erst der weitere Text klärt auf: Durch die neuen Regenfälle ist in Westsachsen ein Arbeiter ums Leben gekommen.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 04.07.2014 um 15.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#26235

Der Weg zu eindeutigerer Ausdrucksweise führt zur Zwei-Kasus-Deklination der Substantive: Im Singular bleibt nur das Gentiv-s und im Plural nur das Dativ-n (wenn diese nicht schon den Nominativ kennzeichnen). Artikellose Länder- und Städtenamen müßten eben nach französischen Vorbild einen Artikel bekommen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.12.2015 um 05.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#30870

Der Possessivartikel ist ein bestimmter, und manchmal empfinde ich das als unangenehm. Wenn ich sage seine Idee, könnte es so verstanden werden, als habe er nur diese eine. Ich muß also ausweichen auf die sonst gemiedene Genitiv-Ersatzkonstruktion eine Idee von ihm oder das umständliche partitive eine seiner Ideen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.03.2016 um 05.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#31873

Im Haupteintrag steht das Beispiel:

Er beschrieb anschaulich, wie sich Bundestag und insbesondere der von ihm vertretene Europa-Ausschuss mit dem Gemeinschaftsrecht befasst hatten. (SZ 11.2.09)

Aber gut finde ich es nicht. Auch nicht folgendes:

angesichts von Mauer und der unverändert harten Reisebeschränkungen (FAZ 25.6.01)

Solche Fälle sind auch selten.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.03.2016 um 06.47 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#31875

Betrachten wir folgende Beispiele:

Er gilt als Lügner.
*Er ist Lügner.

*Er gilt als Bürgermeister.
Er ist Bürgermeister.


Wir können sagen, daß "Lügner" kein Beruf ist. Aber warum kann jemand nicht als Bürgermeister gelten? (Außer in dem ungewöhnlichen Fall, daß jemand zweifelt, ob die Ernennung rechtmäßig zustande gekommen ist.)
Der Unterschied scheint zu sein, daß das Bürgermeistersein ganz in seiner "Geltung" besteht, während das Lügnersein die Zuschreibung einer Eigenschaft ist, die zutreffen kann oder auch nicht. Wer es logisch mag: Lügner ist intensional, Bürgermeister extensional. Man wird in das Bestandssystem ("Inventar") der Bürgermeister eingereiht und gehört dann allein deshalb dazu.

Weil die Rolle des Bürgermeisters allein in der "Geltung" besteht, kann man diese Geltung nicht nochmals durch "gelten" relativieren.

Das erinnert an den anderswo erörterten Fall, daß jemand "als bekannt/berühmt gilt". Man muß doch wissen, ob einer bekannt ist, weil das nur gerade die Frage der Geltung betrifft. Man kann nicht berühmt sein, ohne daß es jemand weiß.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.03.2016 um 11.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#31877

Ein bekannter Theologe hat mal ein Buch mit dem Titel Geist in Welt veröffentlicht. Geist wird im Deutschen teils konkret wie eine Körperteilbezeichnung verwendet (auch mit Pertinenzdativ: jdm. auf den Geist gehen), teils wie ein Stoffsubstantiv. Für Welt gilt ähnliches, aber als Stoffsubstantiv (Kontinuativum) bereitet es schon größere Mühe und gehört es eher zu einem bestimmten Jargon: voller Welt usw. Im Alltag könnte ich kaum sagen: Gestern habe ich mich mit Karl Rahner über Geist in Welt unterhalten.

Der bewußte Verstoß gegen die standardsprachliche Grammatik stimmt den wohlwollenden Interpreten noch auf weitere Lizenzen ein, nach dem Muster: Wenn Geist in Welt möglich ist, dann ist auch noch vieles andere möglich. – Das ist wohl noch nie untersucht worden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.03.2016 um 09.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#31966

Anderswo habe ich Masern und Pickel erwähnt. Nicht besonders klar scheint der Gebrauch des bestimmten Artikels bei Krankheitsbezeichnungen zu sein. Wir sagen fakultativ: Er hat die Masern. Aber nicht: *Er hat die Pickel. Das könnte damit zusammenhängen, daß Masern, Röteln, Pocken und Windpocken nahezu Pluraliatantum sind, während ein einzelner Pickel durchaus interessant sein kann und auch behandelbar ist.

Im Singular: Er starb an der Cholera. Bei Krebs ist der Artikel unüblich. Das Tempus spielt auch eine Rolle: ?Sie hat die Diphtherie, aber: Zwei Kinder starben an der Diphtherie.

Manche Kranheiten scheinen volkstümlich wie immer wiederkehrende Bekannte behandelt zu werden, also die Masern wie die Hundstage.

Neuerdings kommen noch Eigennamen und Abkürzungen hinzu: Parkinson, Alzheimer, Aids; Polio.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 15.03.2016 um 09.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#31967

Man leidet in der Regel an Morbus Soundso, nur selten am. Morbus wird weggelassen, wenn die Krankheit hinlänglich bekannt ist:
Er leidet an Alzheimer.
*Er leidet an Crohn.

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.05.2016 um 09.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#32674

Zu den "Alloindividuen" (s. Haupteintrag) wäre noch zu ergänzen, daß nicht nur Attribute im engeren Sinnn, sondern auch Erstglieder von Komposita diese Wirkung haben, daher das Nachkriegsberlin, im Nachkriegsberlin (viele Belege).
Diese Wortbildung dürfte gefördert werden durch Lücken im Adjektivwortschatz.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.07.2016 um 07.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#32780

Der Autor ist Physiker, Schriftsteller und Philosoph in Tübingen. (FAZ 6.7.16)

So liest man es oft, aber es klingt schief. Man kann Bundesverfassungsrichter in Karlsruhe sein, auch Philosoph in Tübingen (verstanden als „an der Universität Tübingen“), aber nicht Schriftsteller in Tübingen. Tübingen ist keine Institution mit Planstellen für Schriftsteller.

Sogar lebt als Schriftsteller in Berlin und Wien kommt mir nicht besonders gut vor, weil ich mir nicht denken kann, wie man das macht. Besser: ist Schrifteller und lebt in Berlin und Wien.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 07.07.2016 um 09.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#32782

Die Bezeichnung »Philosoph« deutet an, daß der Betreffende nicht an der Universität tätig ist, da man Philosophieprofessoren im allgemeinen nicht als Philosophen bezeichnet.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.07.2016 um 17.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#32829

In Anlehnung an ein Beispiel von Ulrich Engel (Deutsche Grammatik 1988:527:

1.Der kleine Einzelhändler hat es momentan sehr schwer. (http://www.hifi-forum.de/viewthread-30-2099.html)
2.Kleine Einzelhändler haben nur wenig Budget für klassische Werbung. (disq.de/2015/20150908-Innovationspreis-Start-up-B2C.html)
3.Die kleinen Einzelhändler haben es schwer. (www.maz-online.de › Lokales › Potsdam-Mittelmark)
4.Ein kleiner Einzelhändler hat es da bei seiner Hausbank ungleich schwerer. (www.kreiszeitung.de › Lokales › Landkreis Rotenburg › Visselhövede)

Das sind vier verschiedene grammatische Programme, die zu weitgehend gleichen Kommunikationserfolgen führen. Das generische Subjekt hat eine konditionale Semantik: "Wenn etwas ein kleiner Einzelhändler ist, dann..."

Bei Prädikaten wie aussterben entfällt die vierte Möglichkeit: *Ein Fischadler stirbt aus.

Das ist längst bekannt und erinnert an scherzhafte Fragen wie: Was tut das Gold, wenn es im Preis steigt?

Die "Oberflächenform" verdeckt eben oft die logische. Aber damit kann sich eine naturalistische Sprachwissenschaft nicht zufrieden geben. Sie muß alles in Verhaltensbegriffe fassen. Das Prädikat aussterben kann sich nur auf die Gattung beziehen? Aber die Gattung gibt es gewissermaßen gar nicht, d. h. die Gattung ist kein Gegenstand, der das Sprachverhalten steuern könnte. Ob etwas ausstirbt, läßt sich nur feststellen, wenn man im Bestandssystem nachsieht (hier spricht man zufällig wirklich vom Bestand an Fischadlern) und dann festellt, daß es immer weniger Adler gibt.

Ein logisch richtiger Lexikoneintrag über Fischadler bietet zuerst die Beschreibung und Einordnung ins Begriffssystem, ohne Rücksicht auf die Frage, ob es überhaupt Fischadler gibt. Der zweite Teil lokalisiert die Fischadler dann im Bestandssystem (in unserer Welt als dem umfassendsten Bestandssystem), und dorthin gehört dann, ob sie aussterben. Der Fischadler frißt Fische und stirbt aus wäre eine zeugmatische Verquickung, aber wir verstehen natürlich trotzdem.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.10.2016 um 12.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#33611

Zum Haupteintrag, Anm. 6:

„In einer elliptischen Konstruktion wie in (d), wo im Dativ Plural und im Genitiv die Langformen von der/die/das erscheinen, gehen die meisten Grammatiken davon aus, daß das Demonstrativpronomen vorliegt.“
(d) Daher sind die Zahlen dieses Jahres nicht mit denen des letzten Jahres vergleichbar.
(Dudengrammatik 2016:292, ebenso in den vorigen Auflagen)

Gallmann formuliert keinen Einwand gegen die pronominale Deutung, bleibt aber bei der „elliptischen“ (S. 281), die in den betreffenden Formen „Langformen des Artikels“ sieht, obwohl sie genau mit den Formen des Demonstrativpronomens übereinstimmen. Das ist schwer zu verstehen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.10.2016 um 07.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#33626

Zum "Personalartikel" (ich Esel, wir Deutsche usw.):

Auch ihr beide, uns allen usw. könnte man hierher stellen und die "appositionelle" Deutung aufgeben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.01.2017 um 06.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34318

Ich nehme an, daß in wir Deutsche(n), du Esel usw. nicht das Personalpronomen, sondern ein Artikel vorliegt (vgl. Dudengrammatik 2016:971). Das Syntagma ist dann nicht als („enge“) Apposition zu verstehen, sondern als determinierte Substantivphrase.
Wie Blatz beobachtet, kann alle nicht unmittelbar vor das Personalpronomen treten: *alle wir, „wohl aber in getrennter Stellung: (Alle tragen wir die Schuld). Außerdem: Wir alle tragen die Schuld – Wir tragen alle die Schuld.“ (Blatz II:293ff.) Hier ist alle eine distributive Apposition wie jeder.
(Poetische Abweichungen wie in der Bach-Kantate Herr Gott, dich loben alle wir bleiben außer Betracht.)
Blatz fährt fort: „Substantivierten Pronominen aber kann all unmittelbar vorausgehen, z. B. Alle diese waren anwesend (Diese alle -, Diese waren alle anwesend).“ (ebd.)
Nicht sehr häufig, aber doch möglich ist noch heute: all wir Menschen (Dann haben all wir Deutsche auch immer noch unter der Schuld des Naziregimes zu leiden). (Dieser Fall ist bei Blatz nicht erwähnt.)
Hier gilt die Einschränkung für Personalpronomina nicht – eben weil es sich vor Substantiven nicht mehr um das Personalpronomen handelt, sondern um eine Artikelform. Das ist vielleicht kein Beweis, aber doch eine gewisse Stütze.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.01.2017 um 05.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34332

Ergänzend zum vorigen Eintrag:

Man könnte sich über alledem wundern, aber früher waren nichtkongruierende Formen von all viel häufiger; Blatz gibt Beispiele wie ohne alle dein Ermahnen. Ähnliches gibt es auch heute noch:
Wie bei Sabine Poschmann aus Dortmund handelt es sich alles um Menschen, die für die SPD zum ersten Mal für den Bundestag kandidieren. (SZ 15.12.12)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.01.2017 um 05.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34350

Meiner Ansicht nach ist in gesprochener Sprache auch

Lügner du!

und sogar

Lügner der!

möglich, aber für das erste habe ich nur wenige Belege ergoogeln können und für das zweite bisher gar keins. Hat jemand ähnliche Konstruktionen auf Lager?

Du elender Lügner du! kommt auch vor, manchmal steht vor dem nachgestellten du ein Komma, wohl zu Unrecht.

In Schillers "Räubern" steht: Blöder Tor ich, warum wollt' ich es auch?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.01.2017 um 18.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34358

"der erste Mensch auf dem Mond
der höchste Berg der Erde

Diese beiden Ausdrücke erfüllen die so genannte „Einzigkeitsbedingung“, die man sich immer mit Kennzeichnungen verbunden denkt: es gibt genau ein A, im Beispiel: genau einen ersten Mensch auf dem Mond, genau einen höchsten Berg der Erde.
Die Einzigkeitsbedingung kann selbst wieder als Konjunktion von zwei Bedingungen analysiert werden:
Existenz: es gibt mindestens ein A
Eindeutigkeit: es gibt höchstens ein A"
(Wikipedia)

Existenz ist hier im mathematischen Sinn gemeint, der nichts mit dem sprachlichen, lebenspraktischen zu tun hat. Vgl.: der erste Mensch auf dem Mars wird nicht lange überleben.

Wenn etwas im gewöhnlichen Sinn existiert, wenn es dies also gibt, dann kann man von hier und jetzt (von dir und mir) aus einen "Pfad" entlanggehen, der zu diesem Gegenstand hinführt, er hat gewissermaßen eine Adresse in der Welt. Es ist ein biographischer, ins Historische verlängerter Überlieferungsstrang. So funktionieren Eigennamen (durch Bekanntschaft, knowledge by acquaintance), aber auf etwas andere Weise auch Kennzeichnungen. Fiktionale Objekte sind im Rahmen einer Theorie der Verstellung und Versetzung zu behandeln.
Dies ist durch keinen "Existenzquantor" oder logischen Operator einzuholen. Mein Kaffeebecher existiert, weil ich nach ihm greifen, wenigstens auf ihn zeigen kann. (Mauthner) Alle Existenzausdrücke sind offen oder verdeckt deiktisch.

 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 20.01.2017 um 22.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34360

Mir leuchtet nicht so recht ein, daß Existenz im mathematischen Sinn etwas anderes ist als im sprachlichen bzw. lebenspraktischen. Die Objekte der Mathematik sind abstrakt, deshalb gibt es in der Mathematik diesen "Pfad" nicht, der zur Adresse des realen Gegenstandes führt. Trotzdem ist meiner Meinung nach die Existenz von gedanklichen (abstrakten) "Gegenständen" prinzipiell dasselbe wie die gewöhnliche Existenz.

Wikipedia erklärt hier Existenz mit "es gibt ...", was aber nur eine Übersetzung des lateinischen Wortes ist.

Die Erklärung von Eindeutigkeit mit "es gibt höchstens ein A" halte ich für falsch. M. E. muß es heißen "es gibt genau ein A". Ansonsten wäre auch jeder Gegenstand, der nicht existiert, eindeutig. Das ergibt aber keinen Sinn. Eindeutig heißt, die Anzahl ist 1, nicht 0.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 20.01.2017 um 22.48 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34361

Letztlich halte ich die zitierte Unterscheidung von Einzigkeit und Eindeutigkeit für eine Wortspielerei. Beides ist das gleiche und setzt Existenz voraus.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 22.01.2017 um 18.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34371

Ist Existenz im gewöhnlichen Sinn immer an das Materielle gebunden? Ist das Existierende immer materiell? Wenn ja, was wäre dann überhaupt der Unterschied zwischen beiden?

Existieren Primzahlen? Ich meine, ja, aber es widerstrebt mir, von einer besonderen Existenz im mathematischen Sinne zu sprechen.

Der erste Mensch auf dem Mars existiert (noch) nicht, oder er existiert vielleicht schon, weiß nur selbst noch nicht, daß er eines Tages als erster den Mars betreten wird. Der erste Mensch auf dem Mond existiert nicht (mehr), oder existiert er doch noch (in der Erinnerung)?
Wie man sieht, auch sprachlich existieren viele Dinge nur als Idee, nicht materiell, das ist kein speziell mathematischer Sachverhalt.

Den deiktischen Aspekt sehe ich nur bei materieller Existenz. Wenn sich Existenz aber im Materiellen erschöpft, welchen Sinn ergibt es, überhaupt von Existenz zu sprechen? Das Nichtexistierende wäre einfach das Nichtmaterielle.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.01.2017 um 18.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34372

Der Ausdruck "materiell" sagt mir nicht viel, denn wogegen grenzt er ab? An die Zwei-Welten-Metaphysik glaube ich nicht. S. a. http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1131#33952

Wenn wir sagen, was es gibt und was es nicht gibt, wissen wir doch recht gut, was wir meinen. Nessie zum Beispiel gibt es nicht, auch Kants Ehefrau hat es nie gegeben. Da müssen wir nicht über materiell und immateriell nachdenken.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 22.01.2017 um 23.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34376

Nessie und Kants Ehefrau sind aber auch gerade völlig unstrittige Beispiele. Was ist mit der Zahl 128, mit dem Kreis, mit dem Menschen? Gibt es sie oder gibt es sie nicht?

Sie glauben nicht an die Zwei-Welten-Metaphysik, d. h. Sie glauben nicht, daß es materielle und ideelle Dinge gibt? Das verstehe ich nicht. Wenn zwei Steine aufeinandertreffen, bekommen sie Kratzer. Die Steine sind materiell, ihre Zusammensetzung, Masse usw. sind bekannt. Die Kratzer sind nicht materiell, sie bestehen aus keinem Stoff, sie gehören fortan zur Gestalt der Steine, sind Information über den Zusammenstoß, also ideell. Aber sie sind doch da.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.01.2017 um 06.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34377

Das verstehe ich nun wieder nicht. Ob materiell oder nicht – ich weiß doch, wie ich mit Kratzern umgehen soll. Die Frage stellt sich für mich gar nicht. Noch einmal zu Mathematik/Logik:

Existenzquantor (in natürlicher Sprache zum Beispiel als „mindestens ein“ ausgedrückt) (Wikipedia)

Dieses „es gibt“ hat nichts mit dem allgemeinsprachlichen „es gibt“ zu tun. Das sieht man an „mindestens ein“ – einer reinen Quantifizierung ohne Verweis auf die wirkliche Welt. Es geht um Anweisungen für Rechenoperationen, die Hinzufügung von „Existenz“ ändert so wenig wie bei Kants Geldbeutel (ich werde kein bißchen reicher, wenn ich mir zu einem vorgestellten Geldbeutel auch noch seine Existenz hinzudenke). Mathematik funktioniert auf genau gleiche Weise, ob man nun die Existenz der mathematischen Gegenstände annimmt oder nicht. Letzteres ist bloß "Philosophie der Mathematik". Gibt es imaginäre Zahlen? Man kann erfolgreich damit rechnen, das genügt. "Existenz" fügt nichts hinzu, und das "es gibt" der Mathematik/Logik ist in diesem harmlosen Sinn zu verstehen.
Es gibt ja auch die schöpferische Definition, mit der man einen "Gegenstand" erzeugt, der hinfort als existent betrachtet wird. Aber das ist wörtlich verstanden ja Unsinn. Durch Reden oder Hinschreiben schafft man doch nicht etwas im gewöhnlichen Sinn von "schaffen". Es ist nur eine Vereinbarung: Man wird fortan mit dieser Größe rechnen, ganz harmlos. "Nützliche Fiktion" wäre auch passend.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 23.01.2017 um 12.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34383

In der Wechselstromtechnik kann man ohne komplexe Zahlen und Rechnung nicht einmal Wirk- und Blindleistung darstellen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.01.2017 um 14.24 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34386

Nicht wahr, man rechnet damit, aber die Frage nach der Existenz erübrigt sich, sie fügt nichts hinzu und nimmt nichts weg.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 23.01.2017 um 15.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34387

Das Wort "mindestens" in "es gibt mindestens ein" ist redundant, egal, ob man sich in natürlicher oder mathematischer Sprache ausdrückt.

Ein sogenannter Quantor oder Quantifikator ist nur eine abkürzende ("mathematische") Schreibweise, man kann ihn genauso in natürlicher Sprache ausdrücken wie alle mathematischen Symbole. Wieso sollte er nichts mit dem allgemeinsprachlichen „es gibt“ zu tun haben? Es ist exakt dasselbe, nur daß er sich halt auf ideelle Objekte bezieht.

Was verstehen Sie unter der "wirklichen Welt"? Alles "Existierende"?

Das Hinzudenken der Existenz ändert deswegen nichts am vorgestellten Geldbeutel, weil dieser als Vorstellung bereits existiert.

Ansonsten ändert ja die Existenz sehr viel, sowohl bei materiellen Dingen als auch bei ideellen. Es existieren keine quadratischen Primzahlen, sehr wohl aber existieren durch 17 teilbare Primzahlen (und zwar, um es noch genauer zu sagen, es existiert genau eine solche). Es existiert der größte Berg der Erde, aber es existiert kein kleinster.

Wenn man keine Existenz ideeller Objekte zuläßt, dann ist jede Existenz immer eindeutig, es gibt gar nichts anderes als eindeutige Objekte. Ein Mensch mit roten Haaren existiert nicht. Herr Müller hat rote Haare, Frau Meier auch, beide existieren in eindeutiger Weise. Aber ein Mensch mit roten Haaren, was sollte das sein? Existiert nicht! Daher ergibt der Ausschluß ideeller Dinge (Ideen) von Existenz keinen Sinn.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.01.2017 um 17.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34388

Was wissen wir über "Vorstellungen"? Dieser Begriff gehört für mich zu einer Wald- und Wiesenpsychologie (folk psychology), die ich ablehne (auch wenn sie im Alltag gute Dienste leistet).
Man wird doch wohl keine Psychologie benötigen, um Mathematik zu treiben?
In der Logik und Mathematik genügt es, einen Begriff zu definieren, dann kann man damit arbeiten. Empirische Wissenschaften müssen sich an das halten, was sie vorfinden, z. B. Quastenflosser, aber nicht Nasobeme (Rhinogradentien).
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 23.01.2017 um 21.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34391

Die Phasenwinkel zwischen Spannung und Strom in der Wechselstromtechnik existieren wirklich und sind mit Oszillographen abbildbar. Die komplexe Rechnung ist nur eine andere mathematische Behandlung dieser realen Winkelfunktionen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.01.2017 um 06.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34393

Ist das ein Argument für oder gegen etwas? Ich kann wieder mal nicht folgen.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 24.01.2017 um 10.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34397

Ich habe mit "Vorstellungen" nur das Beispiel vom "vorgestellten Geldbeutel" aufgenommen, hätte es auch als Idee bezeichnen können. Ist das schon Psychologie, Volkspsychologie?
Natürlich braucht man für Mathematik keine Psychologie, aber wir treiben ja auch keine Mathematik, sondern reden aus einem philosophischen Blickwinkel darüber.

Mit dem Verhältnis von Materiellem zu Ideellem haben sich schon Generationen von Philosophen beschäftigt, das waren doch sicher nicht alles Wald- und Wiesenpsychologen, oder? Zwei-Welten-Metaphysik klingt mir auch zu abwertend. Von einem materialistischen Standpunkt wird die Welt nicht als zweigeteilt gesehen, sondern Ideen, Bewußtsein als Eigenschaft der Materie in einer einzigen Welt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 14.03.2017 um 08.10 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34694

Warum konnte Merkel nicht zu Trump fliegen?

Merkels Besuch bei Trump wegen Schneesturm verschoben
Merkel-Reise wegen Schneesturms in den USA abgesagt
(14.3.17)

So wechseln die Überschriften.

Gallmann, der das Thema weiterhin unter "Sichtbarkeit" behandelt, obwohl es sich um Hörbarkeit handelt, hält den Genitiv in wegen Todesfalls für "stilistisch auffällig" (http://www.personal.uni-jena.de/~x1gape/Wort/Wort_NP_Genitiv.pdf).

Zur wenig beachteten Artikellosigkeit könnte man wieder Sekiguchis Beobachtung heranziehen (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=):

wegen: Schneesturm
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 14.03.2017 um 11.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34696

zu #34694: news&id=1579 (bitte ggf. nach Korrektur hier löschen)

Was Artikellosigkeit betrifft, muß man m. E. auch immer zwischen Überschriften (Titeln, Schlagworten) und Fließtext unterscheiden.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 14.03.2017 um 18.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34700

Deutsche Namen in anderen Sprachen richten sich nicht nach der deutschen Grammatik: Russisch "Sankt Peterburg".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.03.2017 um 11.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34795

Wir stehen an der hecken gradem wall
In reihen kommen kinder mit der nonne.
Sie singen lieder von der himmelswonne
In dieser erde sichrem klarem hall.


Der bestimmte Artikel (mit der nonne) ist genial. Vgl. auch http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1364 (mit dem Stuhle). Stefan George war ein Monster, aber manches ist ihm so gelungen, daß man es nach dem ersten Lesen für immer im Kopf hat. (Die nächsten vier Zeilen sind schon nicht mehr so gut.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.05.2017 um 10.23 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#35139

Man könnte meinen, daß wir alle/wir beide(n) ebenso gebaut ist wie wir Deutsche(n).
Dann muß aber wir alle ganz anders gebaut sein als wir wissen alle usw. ("Dislozierbar" in diesem Sinne ist das Substantiv ja gerade nicht.) Alternativ könnte man für wir alle und wir Deutsche ganz verschiedene Strukturen ansetzen, entgegen dem ersten Augenschein.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.06.2017 um 06.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#35384

Zum artikellosen Gebrauch von Konkreta (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#31877) hatte ich anderswo auch den Theologen Gerhard Ebeling zitiert: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1447#24329

Hier noch einmal ein etwas anderes Exzerpt aus demselben Text:

Wort will Verstehen eröffnen. (...) Denn Wort will verantwortet sein. (...) Diese immer neu wahrzunehmende Verantwortung von Wort Gottes... (Gerhard Ebeling: Wort und Glaube. Band 2: Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Lehre von Gott. Tübingen 1969:106ff.)

Der Hörer oder Leser muß in eine erbauliche Stimmung versetzt sein, bevor er solche Verstöße gegen die Grammatik hinnimmt. Das ist interessant genug und sollte genauer erforscht werden. Aber auch der biographische Hintergrund des Verfassers müßte einmal exemplarisch aufgeklärt werden: Was muß alles geschehen sein, bevor sich ein Mensch herausnimmt, so zu reden? Er muß ja Familie, Spielkameraden und Kommilitonen hinter sich gelassen haben, die ihn erstaunt ansehen würden, wenn er sich so äußerte.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.10.2017 um 10.27 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#36499

Zu den Nichtzählbaren gehören Obst, Vieh.

Man kann also, wenn ein Apfel auf der Straße liegt, nicht sagen: Da liegt ein Obst. Der unbestimmte Artikel (das Zahlwort) steht nur vor Sorten.

Bei Vieh ist es etwas anders: ein Vieh hat eine andere Bedeutung (vgl. Mistvieh, Viecher).

In manchen Sprachen wie dem Chinesischen werden alle Appellativa so behandelt; es kommt ein "Zähleinheitswort" (Nominalklassifikator) davor: "ein Stück Mensch" usw., mit spezifischen Ausdrücken für verschiedene Objektklassen, aber auch fakultativ mit einem Universalklassifikator wie eben "Stück" (ge).
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 08.10.2017 um 23.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#36501

Der Apfel ist ein Obst.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.10.2017 um 04.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#36502

= eine Obstsorte. Im Prädikat ist es ohnehin anders.

Übrigens haben wir in der Familie scherzhaft den Plural Öbster gebildet. Das ist regional eigentlich ein Obstbauer oder -händler.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 09.10.2017 um 12.53 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#36506

Stoff-Bezeichnungen mit Plural: Öle, Salze, Fette, Biere, Kraftstoffe usw.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.12.2017 um 16.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#37257

Im Haupteintrag habe ich geschrieben:

Man sagt Zeitung lesen, aber nicht *Buch lesen, denn die Zeitung ist weniger individualisiert, daher wird eher die Eigenart der Tätigkeit als deren Gegenstand hervorgehoben.

Dazu auch:

Es hat in der Zeitung gestanden.
*Es hat im Buch gestanden.


Die Zeitung ist gewissermaßen immer dieselbe, sie kommt jeden Morgen.

Diese semantische Klasse von Substantiven wird nicht genug beachtet.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.01.2018 um 06.13 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#37528

In jüngerer Vergangenheit werden auch Klangschalen aus Quarz angeboten. Zur Herstellung wird das Quarz eingeschmolzen und daraus dann die Schale mithilfe einer Zentrifuge geformt. (Wikipedia „Klangschale“)

Eigentlich ist Quarz maskulin, aber das Wort wird selten mit Artikel gebraucht, und außerdem könnte die Vorstellung des wenig individuierten Materials das Neutrum nahelegen.

(Klangschalen und dazugehörige Bücher werden bei Amazon selbstverständlich sehr hoch bewertet, denn wer so etwas kauft, ist ja bereits bekehrt und müßte es sich selber zuschreiben, wenn es nicht wirkt.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.01.2018 um 04.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#37601

Zum bestimmten Artikel bei Eigennamen:

Aber was um alles in der Welt hat das mit der Merkel, dem blöden Dobrindt und den anderen zu tun? (Nahles auf SPD-Parteitag 21.1.18)

Der Macron hat mich gestern angerufen. (Schulz ebd.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.08.2018 um 06.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#39277

Sprecher artikelloser Sprachen machen im Deutschen hartnäckige Fehler im Setzen oder Nichtsetzen der Artikel. Bei Chinesen fiel mir auf, daß sie zunächst zu wenige setzen, das ist ganz klar ein Interferenzfehler. Fortgeschrittene Lerner neigen zu grammatisch falschen oder wenigstens stilistisch überzähligen bestimmten Artikeln. Das hängt vielleicht mit der Gewohnheit zusammen, deutsche Substantive stets zuammen mit dem bestimmten Artikel zu lernen.

Natürlich gibt es im Deutschen einen großen Spielraum, und oft können auch wir Muttersprachler kaum sagen, warum der eine oder der andere Artikel oder eben gar keiner im bestimmten Fällen besser ist. Die halbwegs sicheren Regeln werden durch Phaseologismen durchkreuzt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.02.2019 um 16.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#40757

Die FAS titelt: Katholiken fordern Wende in der Kirche

Daraufhin ein Leserbriefschreiber:

Was heißt hier: "Katholiken"?
Ich mag es nicht glauben, daß neun Personen ausreichen, um in der Überschrift schon von "Katholiken" zu reden. Ich gebe weder P.K. Mertes SJ, noch den übrigen Unterzeichnern, noch der FAZ Redaktion das Recht, in meinem Namen, der ich Katholik bin, zu sprechen.


Wie man sieht, führt der Schlagzeilenstil „mit ohne“ Artikel zu Mißverständnissen.

(Die 140 Zuschriften sind fast ausschließlich von Männern, etwa die Hälfte lehnt den offenen Brief ab.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.02.2019 um 09.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#40807

Zu
http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34795

Wir stehen an der hecken gradem wall
In reihen kommen kinder mit der nonne.
Sie singen lieder von der himmelswonne
In dieser erde sichrem klarem hall.

Die wir uns in der abendneige sonnten
Uns schreckten deine worte und du meinst:
Wir waren glücklich bloss solang wir einst
Nicht diese hecken überschauen konnten.


Man könnte das so verstehen, als habe der Begleiter etwas anderes, nicht Angeführtes gesagt, meine damit aber das, was die beiden letzten Zeilen ausdrücken. Aber das wäre weit hergeholt. Er dürfte genau das gesagt haben, was dasteht, und das „meinst“ ist ein Verlegenheitsausdruck um des Reimes willen. Dieses saloppe "meinen" im Sinne von "sagen" paßt im sprachlichen Register nicht recht, vom falschen Tempus abgesehen. So bestrickend das Ganze wirkt („Sie singen lieder von der himmelswonne“ – was für ein Einfall!), dies ist ein kleiner Fleck.

(Ich bin gerade noch einmal darauf gestoßen, weil ich mich mit dem Verb „meinen“ beschäftige; anderswo weiter dazu!)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 09.03.2019 um 05.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#41018

"Die Die Welt stuft auch Venezuelas Präsidenten Nicolás Maduro von der Sozialistischen Einheitspartei Venezuelas (PSUV) als linksnationalistisch ein." (Wikipedia Linkssozialismus)

Eigentlich war ich nur neugierig wegen der "Linkssozialisten", zu denen nicht nur die "Welt" Maduro zählt.

Aber wieso "die Die Welt"? Welt ist feminin, aber Die Welt nicht. Man könnte wohlwollend sagen, daß das generische Zeitung mitgedacht ist, aber dann müßte man auch "die Schwarzwälder Bote" und "die The Guardian" sagen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.05.2019 um 15.45 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#41595

Zu http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#34377

Meine sicher schrecklich naiven Bemerkungen zum Existenzquantor finde ich immerhin ähnlich und sehr ausführlich bei Mario Bunge (Bunge/Mahner: Über die Natur der Dinge, S. 248). Anscheinend hat er sich damit wenig Freunde gemacht, aber das kommt vor und stört mich nicht.

Meiner Ansicht nach ist die gewöhnliche Existenzbehauptung etwas anderes als das logisch-mathematische „es gibt“, nämlich eine Verankerung in der wirklichen Welt, als Teil des Bestandssystems, zu dem auch Sprecher und Hörer gehören. Logik und Mathematik kommen aber ohne solche Aktionen aus. Die Aussage Einige Nymphen sind hübsch (Bunges Beispiel) kann Teil des logischen Schließens sein, ob es nun Nymphen gibt oder nicht oder mal gegeben hat oder nur in einer Sonderwelt der Mythen gibt – das ist logisch alles ganz gleichgültig.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.06.2019 um 03.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#41706

„Nomen, auch Substantive sowie Hauptwörter, bezeichnen Dinge, Lebewesen und Abstrakta (z. B. der Tisch, das Kind, die Liebe). Nomen werden großgeschrieben und werden zumeist mit ihrem Artikel verwendet. Nomen werden dekliniert und sind demzufolge flektierbar. Außerdem lassen sie sich in konkrete (das Haus, der Baum) und abstrakte (der Mut, das Glück) Nomen unterscheiden.“
(https://wortwuchs.net/grammatik/wortarten/)

Es müßte doch auffallen, daß die Substantive in diesem Text fast ausnahmslos ohne Artikel gebraucht sind.

Auf die Folklore von den abstrakten Gegenständen brauche ich hier nicht noch einmal einzugehen (sind die Wörter abstrakt oder das, was sie "bezeichnen"?).
 
 

Kommentar von Wolfram Metz, verfaßt am 25.01.2021 um 23.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#45100

Vor knapp vier Jahren habe ich mir folgende Notiz gemacht, die mir heute wieder in den Sinn kam:

„Beide [Trump und der Papst] unterhielten sich eine halbe Stunde lang.“
Nachrichten SWR 4, 24.05.2017, 11.00 Uhr
Klingt für mich, als hätte jeder für sich mit irgendwem gesprochen. Um auszudrücken, daß Trump und der Papst miteinander gesprochen haben, würde ich den bestimmten Artikel bevorzugen: „Die beiden unterhielten sich eine halbe Stunde lang.“ Oder einfach: „Sie unterhielten sich eine halbe Stunde lang.“

Aber wieso empfinde ich hier einen Unterschied?

Vielleicht suggeriert die Variante mit Artikel eine »Vertrautheit« (sowohl des Hörers mit den Handelnden als auch der Handelnden untereinander), die den Gedanken an getrennte Gespräche gar nicht erst aufkommen läßt: die beiden = die zwei, wie sie da so traut beisammensitzen. (Aufgrund des ersten Satzes der Meldung, den ich nicht notiert habe, ist ohnehin klar, daß es um das Gespräch der beiden miteinander geht; ich rede hier von einem winzigen Störgefühl, nicht davon, daß der Text wirklich mißverständlich wäre.)

Bei Fehlen des Artikels dagegen lenkt nichts die Aufmerksamkeit vom Wort beide ab, wodurch es für mich plötzlich etwas Trennendes bekommt: beide = sowohl der eine als auch der andere. Zwar bezeichnet beide auch hier eine Gemeinsamkeit, weil Trump und der Papst ja das gleiche tun, aber jeder tut es für sich. Der Satz hätte auch anders weitergehen können, z. B. so: Beide betonten die Notwendigkeit, den Nahostkonflikt dauerhaft zu lösen.

Sehe ich womöglich Gespenster?
 
 

Kommentar von Christof Schardt, verfaßt am 26.01.2021 um 00.28 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#45101

Nein, Sie sehen keine Gespenster.
Ich habe mehrfach genau dieselben Beobachtungen gemacht und auch irgendwo tief in meinen Notizen festgehalten. "Beide" ist etwas anderes als "die beiden", aber der Unterschied wird von journalistischen Schreibern oft nicht beachtet.
Ich stelle hier meine Beispiel ein, wenn ich sie gefunden habe.
 
 

Kommentar von Christof Schardt, verfaßt am 26.01.2021 um 01.22 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#45102

Hier mein jüngstes Fundstück dazu:
"Aber in letzter Minute einigen sich Putin und Erdogan immer. Denn beide Machthaber haben ein großes gemeinsames Interesse."
Quelle: https://www.welt.de/politik/ausland/plus220062398/Strategische-Partnerschaft-Wahnwitziges-Monopolyspiel-zwischen-Erdogan-und-Putin.html

Richtig müßte es heißen: "Die beiden Machthaber haben ein gemeinsames Interesse".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 26.01.2021 um 05.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#45104

Beide ist distributiv (wie jeder), die beiden kollektiv. Der Unterschied ist im Kontext neutralisierbar.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.04.2022 um 05.39 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#48935

Karl-Markus Gauß liest den Corona-Demonstranten die Leviten, daß es eine Art hat (SZ 14.4.22). Recht hat er, aber darunter steht wie immer: Karl-Markus Gauß ist österreichischer Essayist und Schriftsteller. Daran stört nicht nur die Koordination, sondern auch die Artikellosigkeit. Man kann nicht österreichischer Essayist sein, weil das keine Rollenbezeichnung ist.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.12.2022 um 07.55 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#50109

Die beiden "Pfarrerstöchter" mit ihrem Bibel-Podcast (http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1512#50043) sind als Münchnerinnen süddeutsch geprägt, unsere Erlanger Professorin deutlicher als ihre Schwester, die stellvertretende Chefredakteurin der ZEIT. Sie sagen aber beide "der David", "der Jesus". Ich bin daran gewöhnt, aber ich frage mich, wie es auf Norddeutsche wirkt. Vielleicht bäuerisch?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.04.2024 um 06.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1615#53046

Nach Hartwig Kalverkämper gehört der bestimmte Artikel bei der Rhein, die Schweiz zum Eigennamen, so daß bei Attribuierung eigentlich zwei Artikel stehen müßten: der schöne der Rhein wie das schöne Basel. Der zweite Artikel wird dann weggelassen. (Textlinguistik der Eigennamen. Tübingen 1978:180)
Ich halte das für eine falsche Analyse. Der Artikel bei gewissen geographischen Namen ist weiterhin ein syntaktisches Mittel zur Eingliederung in einen Satz und kein Namensbestandteil. Fehlt dieser Zusammenhang, steht auch kein Artikel; in Listen und Tabellen aller Art heißt es selbstverständlich nur Rhein, Schweiz.
Die Sprecher vergessen übrigens niemals, den zweiten Artikel wegzulassen, was als Fehlertyp doch vorkommen müßte, wenn Kalverkämpers Analyse richtig wäre.
 
 

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