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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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22.02.2006
 

Zeitung in der Schule
„Keiner weiß mehr, was richtig ist“

Der Wiesbadener Kurier hat einen Leistungskurs Deutsch in reformierter Rechtschreibung getestet.
"Die Fehlerquote war verheerend." Wir wollen nicht so genau hinsehen, welche Rechtschreibung verlangt wurde. Interessanter sind die Meinungen der Schüler über die Rechtschreibreform. Die Zeitung berichtet, "dass die Schüler kein gutes Haar an der Rechtschreibreform lassen. 'Absolut sinnlos', weil die Neuregelungen nur zur Irritation geführt hätten, urteilt Julia." Dann kommt eine sehr seltsame Aussage: "Vor allem ärgert die Schüler, dass einige Zeitungen bei der alten Schreibweise geblieben sind. 'Keiner weiß mehr, was richtig ist', klagt Julia." Hat der Reporter vielleicht im Zehetmair-Ton formuliert: "Was haltet ihr davon, daß einige Zeitungen bei der ganzen alten Schreibweise geblieben sind?"?
Da wird einerseits zugunsten der Reform behauptet, man merke die Unterschiede zur alten Schreibweise gar nicht, andererseits soll hier die Hauptquelle der Verwirrung liegen. Und noch etwas anderes fragt man sich: Ist die Lektüre anderer Zeitungen unter Wiesbadener Schülern wirklich so verbreitet, daß sie davon verwirrt werden können? Die BILD hat fast keinen Text, also kommt praktisch nur die FAZ in Frage. Da muß man die Schüler ja schon wieder beglückwünschen.



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Kommentare zu »Zeitung in der Schule«
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Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 02.03.2006 um 02.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=432#2970

Germanist: »Die Steigerungsprobe beweist, daß "besorgniserregend" ein Adjektiv ist, denn wie will man "Besorgnis erregend" steigern? Etwa "Besorgnis erregender"? Es kann ja nicht sein, daß durch die Steigerung als "besorgniserregender" ein Wortartwechsel bewirkt wird.«

Nun, die Zwischenstaatliche Kommission hatte sich seinerzeit auf genau dieses Glatteis begeben müssen, um eben diesen Wechsel zu rechtfertigen. In ihrem dritten Bericht an die KMK steht auf S. 64f (für die Kursivierungen siehe die Abbildungen: http://www.rechtschreibreform.de/K3/064.gif, .../065.gif):

»1.1.1 Problemfeld (1): Überlappung von § 36 E1 (1) und § 36 (2)

Regel § 36 (2) hält fest, dass Zusammenschreibung gilt, wenn der zweite Bestandteil so selbstständig nicht vorkommt. Das trifft etwa zu, wenn eine Verbindung mit einem Partizip als Ganzes in den Komparativ gesetzt werden kann, zum Beispiel: eine gewinnbringendere Investition. Es gibt hier keinen zugehörigen einfachen Komparativ dringendere. Der Grund für diese Lücke liegt in der Tatsache, dass einfache Partizipien generell nicht kompariert werden können, außer wenn sie sich zu eigenständigen adjektivischen Lexemen verselbstständigt haben, zum Beispiel: das bedeutendere Werk. Im Positiv führt dieser Sachverhalt zu zwei möglichen Schreibungen: die Gewinn bringende Investition (nach dem Infinitiv: die Investition wird Gewinn bringen) oder eine gewinnbringende Investition (nach dem Komparativ: die gewinnbringendere Investition). Ähnliches gilt für Verbindungen mit einem Adjektiv als erstem Bestandteil: ein schwer wiegender Vorfall (wegen: ein schwerer wiegender Vorfall; mit Komparation des Adjektivs) oder ein schwerwiegender Vorfall (wegen: ein schwerwiegenderer Vorfall; mit Komparation der gesamten Verbindung, das Komparationssuffix steht dann am Ende der Verbindung, das heißt beim Partizip).

Die genannten Möglichkeiten werden im Regelteil nirgends explizit vorgeführt. Es lässt sich nur aus einigen Einträgen im Wörterverzeichnis rekonstruieren, dass beide logisch denkbaren Schreibungen tatsächlich zugelassen sind. Dies widerspricht aber der Grundintention der Neuregelung, außerhalb bestimmter Teile der Wortschreibung im engen Sinn (Laut-Buchstaben-Beziehungen; Teil A des amtlichen Regelwerks) keine Regelung über das Wörterverzeichnis vorzunehmen. Das heißt, der Schreibende sollte sich in den Bereichen B bis F des amtlichen Regelwerks darauf verlassen können, dass die Schreibung allein auf Basis des Regelteils sicher hergeleitet werden kann, also ohne Konsultation des amtlichen Wörterverzeichnisses. Dies ist umso wichtiger, als das amtliche Wörterverzeichnis nicht jede aus den Regeln ableitbare Schreibung zeigen kann; insbesondere wird die Anwendung fakultativer Regeln (etwa im Bereich der Schreibung mit Bindestrich) gewöhnlich nicht vorgeführt. Streng logisch gesehen, hat das amtliche Wörterverzeichnis in Bezug auf die Teile B bis F des Regelteils nur illustrierenden, nicht normsetzenden Charakter.

Dass von den zwei logisch denkbaren Schreibungen Gewinn bringend und gewinnbringend tatsächlich beide zugelassen sind, ist keineswegs selbstverständlich, gibt es in der Rechtschreibung doch zahlreiche Metaregeln, die festlegen, welche von zwei möglichen Regeln zur Anwendung kommen darf. Das heißt, im Fall eines Regelkonflikts kommt tatsächlich nur eine Regel zur Anwendung.

Im hier diskutierten Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung ist in Fällen wie Gewinn bringend oder gewinnbringend also eine Art Toleranz-Metaregel anzusetzen. Dieser komplizierte Sachverhalt muss im amtlichen Regelwerk so nicht explizit aufgezeigt werden, er sollte aber wenigstens indirekt in einer passenden Erläuterung ein Äquivalent haben.

Während die Komparierbarkeit zu Schreibvarianten wie gewinnbringend vs. Gewinn bringend und schwerwiegend vs. schwer wiegend führt, lässt sich für nichtkomparierbare Fügungen aus dem amtlichen Regelwerk nur eine einzige Schreibung ableiten, also beispielsweise nur allein stehend (und nicht auch alleinstehend). Aus grammatischer Sicht ist allerdings zu vermuten, dass auch in solchen Verbindungen eine Varianz zwischen zwei Arten von Lexikalisierung vorliegt, nämlich Lexikalisierung mit und ohne Univerbierung (im ersten Fall liegt ein einzelnes, morphologisch komplexes syntaktisches Wort vor, im zweiten Fall handelt es sich um eine lexikalisierte Phrase, um einen Phraseologismus aus mehreren syntaktisch selbstständigen Wörtern).

1.1.2 Problemfeld (2): Prädikative Verwendung

Die Getrenntschreibung von Verbindungen aus Substantiv und Partizip I trifft nicht unbedingt die Intuition der Schreibenden, wenn die Verbindungen in einem Syntagma wie dem folgenden auftreten: Diese Investition ist Gewinn bringend. (Statt dessen findet sich meist: ... ist gewinnbringend; zur Herleitung dieser Variante siehe oben.)

Gegen die Getrenntschreibung kann der folgende Zusammenhang angeführt werden: Das Partizip I tritt im Gegensatz zum Partizip II gewöhnlich nicht als Prädikativ bei einer Kopula auf. Wohl kaum akzeptierbar: *Sie ist lachend. *Sie ist Briefe schreibend. Scheinbare Abweichungen sind damit zu erklären, dass sich das ursprüngliche Partizip zu einem eigenständigen Adjektiv entwickelt hat, vgl. zum Beispiel: Der Schaden ist bedeutend. Wenn Fügungen aus Substantiv und ursprünglichem Partizip I prädikativ vorkommen, ist zu vermuten, dass die ganze Verbindung zu einem komplexen Adjektiv reanalysiert wird (Univerbierung). Das legen auch Oppositionen wie die folgende nahe: Diese Investition ist gewinnbringend. Aber kaum: *Diese Investition ist großen Gewinn bringend.«

Bei den erwähnten Einträgen im Wörterverzeichnis, anhand derer sich rekonstruieren läßt, daß »beide logisch denkbaren Schreibungen tatsächlich zugelassen sind«, handelt es sich um gewinnbringend und grauenerregend – und nur um diese beiden. Dieselbe Problematik wird in der Anlage 2, „Stellungnahme zu den Vorwürfen Th. Icklers, die 22. Auflage des Duden würde vom amtlichen Regelwerk abweichen“, wieder aufgegriffen. Auf S. 121 heißt es (http://www.rechtschreibreform.de/K3/121.gif):

»Im Einzelnen:

1. Als regelwidrig werden die Schreibungen schwindelerregend, musikliebend; vielsagend, vielversprechend kritisiert.

Die jetzigen Dudenschreibungen können alle aus dem amtlichen Regelwerk hergeleitet werden.

Begründung:

Wenn eine Verbindung des Typs Nomen bzw. Adjektiv + Partizip kompariert wird, schreibt man zusammen, zum Beispiel schwindelerregender. In solchen Fällen kann auch im Positiv zusammengeschrieben werden: schwindelerregend.

In der Ausgabe des Duden von 1996 waren nur die getrennten Schreibungen aufgeführt, allerdings stets mit dem Verweis auf R 40 (= Richtlinie 40), die – in Übereinstimmung mit dem amtlichen Regelwerk – Zusammenschreibung fordert, wenn der zweite Bestandteil gesteigert ist. Schreibungen wie *am Aufsehen erregendsten und *am viel sagendsten (vgl. Ickler, DIE WELT, 25.7.2000, S. 9) sind damit nicht zulässig.

Während sich die Getrenntschreibung aus der Grundform (Schwindel erregen) ergibt, resultiert die Zusammenschreibung daraus, dass der Gesamtausdruck steigerbar ist (sehr/äußerst schwindelerregendlnoch schwindelerregender) und nur zusammengeschrieben werden kann:

Schwindel erregen | noch schwindelerregender —> Schwindel erregend/schwindelerregend

Im Wörterverzeichnis des Regelwerkes ist dieser Sachverhalt beispielgebend dargestellt, vgl. Gewinn bringend/gewinnbringend und Grauen erregend/grauenerregend.«

Für den gesamten 3. Kommissionsbericht siehe auch hier: http://rechtschreibreform.de/K3/K3_alles.html
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 27.02.2006 um 18.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=432#2913

Viele durch Konversion (Wortartwechsel) aus dem Partizip Präsens entstandene Adjektive sind nicht steigerbar. Wenn sie aber ein Substantiv als Akkusativobjekt haben, das zu den Stoffbezeichnungen oder zu den Begriffswörtern (Abstrakta) gehört, ist dieses "steigerbar", mit Komparativ und Superlativ, aber nicht mit dem Elativ: eine milchgebende Kuh, eine mehr Milch gebende Kuh, die am meisten Milch gebende Kuh, aber nicht: *eine sehr Milch gebende Kuh, höchstens: eine viel Milch gebende Kuh. Entsprechend: eine streßverursachende Arbeit, eine mehr Streß verursachende Arbeit, die am meisten Streß verursachende Arbeit. Aber eigentlich stehen diese Partizipkonstruktionen für einen Relativsatz und sind im Grunde Anglizismen, weil sie im Englischen üblicher sind als Nebensätze, und deswegen kein gutes Deutsch.
 
 

Kommentar von Jens Stock, verfaßt am 26.02.2006 um 22.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=432#2891

Die Getrenntschreibung von Ausdrücken wie "Besorgnis erregend" ist nicht nur ärgerlich, sondern auch recht kompliziert. Zunächst einmal soll man nach der Reformregelung die Getrenntschreibung nicht beim prädikativen Gebrauch anwenden; außerdem verbietet sie sich bei Erweiterung oder Steigerung. Von den folgenden sechs Beispielen sind also, wenn ich es richtig sehe, nach reformierten Regeln immerhin fünf falsch:

(1) Der Vorfall ist Besorgnis erregend.
(2) Der Vorfall ist sehr Besorgnis erregend.
(3) Der Vorfall ist Besorgnis erregender als ...
(4) ein Besorgnis erregender Vorfall
(5) ein sehr Besorgnis erregender Vorfall
(6) ein noch Besorgnis erregenderer Vorfall

Richtig im Sinne der Reform wäre wohl nur (4), und auf diesen Einzelfall können wir auch verzichten. [Bitte um Korrektur, wenn meine Ausführung hier nicht stimmt.]

Außerdem dürfte klar sein, daß die Getrenntschreibung von "Besorgnis erregend", "Kosten sparend" usw. auch Früchte wie "Kosten pflichtig", "Frauen feindlich" und "Turm hoch" hervorbringt.

Na ja, aber was soll man da eigentlich noch sagen? Unsere allgemein bildenden Schulen kommen ja angeblich mit der getrennt Schreibung, die alles einfacher macht, ganz gut zu Recht ...
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 26.02.2006 um 21.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=432#2890

Die Steigerungsprobe beweist, daß "besorgniserregend" ein Adjektiv ist, denn wie will man "Besorgnis erregend" steigern? Etwa "Besorgnis erregender"? Es kann ja nicht sein, daß durch die Steigerung als "besorgniserregender" ein Wortartwechsel bewirkt wird.
 
 

Kommentar von Reformgegner, verfaßt am 26.02.2006 um 20.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=432#2889

Die Argumente der Bildungsminister sind unerträglich und dumm. Die Behauptung, daß die Reform im Sinne der "geplagten Schüler" sei, kann ich nicht akzeptieren. Wie bitte soll man mit Schülern Wortarten analysieren, wenn man nicht mehr "besorgniserregend", sondern nur noch "Besorgnis erregend" schreiben darf? Ist "besorgniserregend" plötzlich kein Adjektiv mehr, sondern (wieder) eine Kombination aus Substantiv und Partizip? Wie soll ein junger Schüler die Funktion von "besorgniserregend" und vergleichbaren Wörtern verstehen, wenn sie nicht mehr als Adjektive aufgefaßt werden? Hier zeigt sich meiner Meinung nach, ähnlich wie in anderen Bereichen der Reform, das Problem, daß man die alte Regelung kennen muß, um die neue zu verstehen.

In der Kommission und im Rat saßen bzw. sitzen gutbezahlte Wissenschaftler und Funktionäre. Den beteiligten Sprachwissenschaftlern sollte man ihre Titel in Anbetracht solcher Beispiele entziehen. Begründung: Inkompetenz! Gerade für Herrn Sitta empfinde ich nach den Berichten von Herrn Professor Ickler nur noch grenzenlose Verachtung!

Oder ist meine Interpretation des o.g. Beispiels falsch?
 
 

Kommentar von borella, verfaßt am 25.02.2006 um 18.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=432#2880

Leider ist der Wortlaut des Diktats nicht abgedruckt.
 
 

Kommentar von Calva, verfaßt am 22.02.2006 um 18.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=432#2843

Siehe auch hier.
 
 

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