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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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02.12.2005
 

Begrenzte Agenda
Fälle und Fallgruppen zur reformierten Groß- und Kleinschreibung

(Mit einem * versehen sind die Themen, mit denen sich der Rat noch beschäftigen will, alles andere soll bleiben!)

gestern Abend usw. (ebenso: neulich Abend): Die Großschreibung ist sogar nach den Kriterien der Reformer grammatisch falsch, da an dieser Position kein Substantiv stehen kann.

* Pleite gehen (ebenso: Bankrott gehen): Die Großschreibung ist grammatisch falsch; etwas geht kaputt, verloren, verschütt, entzwei, man geht einer Sache verlustig.

* Recht haben: Grammatisch falsch, vgl. wie Recht du hast. Das ebenso falsche Leid tun (es tut mir sehr Leid) ist nur deshalb aus dem verbindlichen Teil herausgenommen, weil die Kultusminister es mit Hilfe des neugeschaffenen leidtun dem Überschneidungsbereich (Getrennt- und Zusammenschreibung) zugeschlagen haben. Die bisherige, allgemein übliche Schreibweise leid tun gilt jetzt als falsch.

Diät leben: Bis zur Rechtschreibreform waren sich die Wörterbücher einig, daß es sich bei diät leben um eine adverbiale Verbindung handelt. Sie antwortet auf die Frage, wie man lebt, nicht was man lebt.

jemandem Freund/Feind/Todfeind sein: Auch diese Großschreibung beruht auf einer Verkennung der sprachlichen Tatsachen. Die Wörter waren in dieser Verwendung nie etwas anders als Adjektive: Je näher verwandt, je feinder einand. Der vielbelachte Spinnefeind ist bereits zurückgenommen.

Not sein, Not tun: Diese Großschreibungen beruhen auf Unkenntnis eines vor etwa 500 Jahren eingetretenen Wortartwechsels. Das Adjektiv wurde auch gesteigert (nöter). Schnelle Hilfe ist Not und ähnliche Schreibweisen sind falsch und sinnwidrig.

jdm. Angst (und Bange) machen: Die Fügung ist die kausative Entsprechung zu angst (und bange) sein/werden und sollte daher ebenfalls klein geschrieben werden: mir ist angst, mir wird angst, das macht mir angst.

im Allgemeinen, des Weiteren, im Wesentlichen, des Langen und Breiten, im Nachhinein, im Voraus u. v. a.: Diese Großschreibungen wurden bereits im 19. Jahrhundert als „übertrieben“ aufgegeben. Ähnlich kritisch sind die erst 2004 wiederbelebten Großschreibungen bei Weitem usw. zu beurteilen.

alles Übrige, der Letze(re), Verschiedenes u. a.: Diese Ausdrücke haben den Charakter von verweisenden bzw. indefiniten Pronomina angenommen und wurden daher seit langem klein geschrieben. Die wiedereingeführte, sogar obligatorische Großschreibung ist rückwärtsgewandt.

* zu Eigen machen: Die Großschreibung des nahezu obsoleten Substantivs ist ein Archaismus. Ähnliches gilt für in Acht nehmen, in Sonderheit. Auch die neue Großschreibung im nicht analysierbaren Wunder was (glauben) ist unbegründet.

Deus ex Machina, Ultima Ratio, Alma Mater, Corpus Delicti usw.: Die Forderung, substantivische Bestandteile in Fügungen aus Fremdsprachen (die selbst gar keine Substantivgroßschreibung kennen) groß zu schreiben, stellt hohe Anforderungen an die Fremdsprachenkenntnis der Schreibenden (wie sich an der Behandlung von Herpes Zoster, Chapeau Claque/claque, Pommes Croquettes u. a. in den Wörterbüchern gezeigt hat) und ist außerdem widersprüchlich, weil nach derselben Logik die Kleinschreibung der Adjektive zu fordern wäre, also ultima Ratio statt bisher Ultima ratio. Die bisherige Regel (das erste Wort groß, alles übrige klein) war viel einfacher und sinnvoller.

der Blaue Planet, der Große Teich u. a.: Die Groß- und Kleinschreibung von Antonomasien war stets uneinheitlich und wird es bleiben; man sollte sie nicht abschließend zu regeln versuchen, zumal die Festlegungen niemals erlernbar sein werden.

* der letzte Wille, die sieben Weltwunder, das schwarze Brett, die erste Hilfe, der weiße Tod u. v. a.: Entgegen einer jahrhundertelangen Entwicklung zur Großschreibung „fester Begriffe“, die sogar weit über den alten Duden hinausreichte (Schneller Brüter usw.), wollte die Neuregelung hier weitgehende Kleinschreibung durchsetzen. Als die Presse sich verweigerte, öffneten die Reformer das Hintertürchen „Fachsprache“ und ließen in allen fraglichen Fällen auch die Großschreibung wieder zu. Die revidierte Neuregelung spricht vage von „manchen Fachsprachen“, „einigen Fällen“. Auch das ist noch zu eng.

jenseits von gut und böse: Warum wird die Großschreibung hier abgeschafft und gleichzeitig bei für Jung und Alt, im Großen und Ganzen, über Mein und Dein usw. eingeführt?

* du, dein usw. in Briefen: Die Schreibung der höflichen Anrede in Briefen geht die staatliche Orthographienormung nichts an.

Dutzend/dutzend, Hunderte/hunderte usw.: Die Regelung der substantivischen Zahlwörter ist zu überprüfen. Ebenso die unterschiedliche Behandlung von Ordinal- und Kardinalzahlwörtern: zum einen – zum Zweiten usw.


* (Vorschlag aus dem Rat: viel, wenig, der eine und Einzige ... – evtl. durchgehend Großschreibung?)



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Kommentare zu »Begrenzte Agenda«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.03.2010 um 16.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=305#15781

In Zürich ist kürzlich eine Ausstellung "Deus ex Machina" eröffnet worden. Auch die Wörterbücher schreiben seit 1996 die Maschine pflichtschuldigst groß. Nur die Reformeiferer von Wikipedia haben es bisher nicht mitgekriegt.
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 07.12.2005 um 00.00 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=305#1906

Und hurre, hurre, hop,hop,hop
geht´s fort in sausendem Galopp

aus der Mitteilung einer Versandbuchhandlung: "... ihr Buch wurde so eben verpackt..." (Na, hoffentlich kommt´s heil an) - "...endet nicht, nach dem Sie die Ware erhalten haben..."

Und ebay teilt mit: Es tut uns Leid, aber sie waren leider nicht...
Da haben wir doch beide Schreibweisen in schönster Eintracht - das nennt man wohl einen Kompromiß.
 
 

Kommentar von borella, verfaßt am 05.12.2005 um 18.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=305#1888

Lehrer vermitteln seit 7 Jahren zweifelhaftes Wissen im Unterricht!

So oder ähnlich könnten die Schlagzeilen der Presse lauten, nachdem amtlich der Begriff der "strittigen" Reformpunkte eingeführt wurde.

Lesen tut man aber: Rechtschreibung? Bitte nicht schon wieder!
 
 

Kommentar von Matthias Künzer, verfaßt am 02.12.2005 um 17.49 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=305#1841

Ein Blick in das Sturmgeschütz der Reform lohnt auch zur GKS. Die neuen Regeln sind ja
kinderleicht.

"Wenn man Letzteres zum Beispiel Ernst nehme, "dürften in Köln keine Fußballspiele mehr stattfinden". "
www.taz.de/pt/2005/06/27/a0044.nf/text.ges,1

Klar: "nehmen" mit Akkusativ. Wen oder was nehmen. Den Ernst.

Leider kein Einzelfall:

www.taz.de/pt/2005/05/21/a0376.nf/text.ges,1
www.taz.de/pt/2001/10/12/a0213.nf/text
www.taz.de/pt/2005/11/07/a0028.nf/text
...


 
 

Kommentar von Matthias Künzer, verfaßt am 02.12.2005 um 07.44 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=305#1834

Zu "recht haben": ebenso falsch wie "wie Recht du hast" ist "du hast nicht Recht" - wäre es ein Substantiv, so müßte man "du hast kein Recht" sagen. (Sagt man ja auch, aber in einem anderen Zusammenhang, etwa "dazu hast du kein Recht".)

Ähnlich: "es tut mir nicht Leid" müßte "es tut mir kein Leid" heißen, da ein Substantiv nicht mit "nicht" negiert werden kann. Etc.
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 02.12.2005 um 07.36 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=305#1832

Die Orthographie ist das unsichtbare „Betriebssystem“ der Schriftsprache (Chr. Stetter). Dies ist eine schöne Metapher. Sie verdeutlicht, was passiert, wenn Halbprofessionelle oder Laien leichtfertig an den unsichtbaren Strukturen eines Systems herumbasteln.

Seit 1996 ist das "Betriebssystem Orthographie" willkürlich und systemfeindlich geändert worden. Kleine Nachbesserungen bringen gar nichts, der Sprachcomputer "spinnt" weiterhin. Abstürzen wird er natürlich nicht, da alles Lebendige – und die Orthographie ist „lebendig“ – die Tendenz hat, sogar auf provisorischer Basis weiterzubestehen. Das Betriebssystem der Sprache ist vital und besitzt starke Selbstheilungskräfte – vorausgesetzt, man läßt diese sich ohne ständige Eingriffe von außen entfalten. Alles, was die Selbstheilung behindert, muß unterlassen werden.

Schädlich ist das Operieren des Rates für deutsche Rechtschreibung, da dieses Gremium trotz gegenteiliger Beteuerungen nichts anderes ist als der personifizierte und ferngesteuerte staatliche Wille. Der Rat wird es, wie sich jetzt bestätigt, bei der Beschädigung des Betriebssystems belassen. (Es nützt wenig, wenn einzelne Mitglieder im Rat sprachloyal und kompetent sind ...) Wie er bei jeder Gelegenheit zu Protokoll gibt, will Zehetmair als Vorsitzender des Rates „die Bürger mit der Rechtschreibung versöhnen“. Man beachte die Reihenfolge: Nicht die Orthographie will Zehetmair mit der Sprachwirklichkeit, also mit dem sprechenden Volk versöhnen – also reparieren –, sondern die Bürger mit der beschädigten Orthographie. Zehetmair möchte also, um es platt auszudrücken, das Volk überreden, mit der beschädigten zweiten Wahl zu leben, wozu es keine Notwendigkeit gibt außer jener, den Initiatoren dieser verunglückten „Reform“ ihr Gesicht wahren und ihre orthographischen Einkommensquellen erhalten zu helfen.

Etwas weniger schädlich, aber perpetuierend sind die automatischen Softwarekorrekturprogramme, da sie von den Menschen als Autorität akzeptiert werden. Zumindest beim mechanischen Schreiben mittels Computer werden die falschen Schreibmuster verbreitet. Hier müßten die Softwarehersteller sich an die Bedürfnisse des Marktes anpassen, nicht an jene der Politik. Aber dies wird sich in dem Moment ändern, indem die meisten Menschen wieder die normale Rechtschreibung verwenden wollen.

Alles hängt davon ab, daß nun auch die betroffenen Zeitungsverlage endlich zur Kenntnis nehmen, daß sie sich in Zukunft mit einem beschädigten orthographischen Betriebssystem abfinden werden müssen, wenn sie sich auf faule Kompromisse einlassen. Wann hat je die Politik schon etwas ausgerichtet! Der Fehler im politischen Betriebssystem hat nun auch das sprachliche Betriebssystem infiziert. Einzelne Personen sind in diesem Fall tatsächlich machtlos – auch ein Herr Zehetmair ist wahrscheinlich gar nicht in der Lage, etwas zu ändern, selbst wenn er es aus ganzem Herzen wollte. Deshalb flüchtet er sich ins "Versöhnen" und "Kompromißschließen". Doch es wird keine Versöhnung geben, so lange der Fehler im Betriebssystem selbst nicht beseitigt ist.

Man kann es nur immer wiederholen: es gibt ein einziges Antibiotikum, das gegen das Virus hilft: das ist die freie Presse!
 
 

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