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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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18.03.2005
 

Hinweise für die Arbeitsgruppe GZS
Worauf ist bei der Revision der refomierten Getrennt- und Zusammenschreibung zu achten?

Die Zweite Orthographische Konferenz 1901 hatte davon abgesehen, die Getrennt- und Zusammenschreibung zu regeln. Es handelt sich um Übergangsbereiche der Sprachentwicklung, die sich nicht abschließend festlegen lassen.
Die beiden Hauptbereiche, in denen es zu Zweifelsfällen wegen der Zusammenschreibung kommen kann, sind von ganz unterschiedlicher Art.

Einerseits handelt es sich um das Zusammenschreiben von Wortgruppen, die aus einem Verb und einem Zusatz bestehen, wobei dieser Zusatz verschiedenen Wortarten angehören kann, in der Verbindung jedoch seine Selbständigkeit mehr oder weniger einbüßt. Eine wirkliche Zusammensetzung entsteht dadurch nicht: aufstehen, zusammenkleben, auseinandersetzen, vorwärtskommen, fertigstellen, stehenbleiben, verlorengehen, wohltun, ernstnehmen, radfahren. Bei passender Konstruktion (Distanzstellung) treten die Bestandteile wieder auseinander: steht ... auf, stellt ... fertig usw., weshalb man auch – ungeschickt genug – von „trennbaren Verben“ spricht. Einige Zusammenschreibungen dieser Art hatte der Duden im Laufe der Zeit aufgenommen, andere (noch) nicht. Die Orientierung des Duden am Schreibbrauch ließ zu wünschen übrig. Die Entwicklung war in jedem Falle eindeutig auf zunehmende Zusammenschreibung gerichtet. Für die entgegengesetzte Richtung ist mir kein Beispiel bekannt.

Die Reformer wollten die Zweifelsfälle (die allerdings durch die Existenz eines amtlichen Rechtschreibwörterbuchs mit zahllosen Einzeltwortfestlegungen erst zum Problem geworden waren) durch einfache Regeln weitgehend beseitigen, also genau jene Festlegung versuchen, auf die man 1901 verzichtet hatte. Sie bekannten sich ausdrücklich zu dem Ziel, der Tendenz der Sprachgemeinschaft zur Zusammenschreibung „entgegenzuwirken“. (Augst et al. (Hg.) 1997, S. 203. Vgl. Internationaler Arbeitskreis für Orthographie (Hg.) 1992, S. 146; sinngemäß ebenso schon in den Wiesbadener Empfehlungen von 1958. Weitere Belege in Zabel 1996).

Die neuen Regeln konnten daher nur den Charakter der Willkür haben. So sollten alle Wörter, die auf -einander oder auf -ig, -lich oder -isch enden, von der Zusammenschreibung ausgeschlossen werden, daher fertig stellen, aber feststellen usw. Auf die Frage, was die Endung des ersten Bestandteils mit der Zusammenschreibung des Ganzen zu tun habe, antwortete der hauptverantwortliche Reformer sinngemäß: „Gar nichts, aber eine willkürliche Regel ist besser als gar keine.“ Damit wird jedoch der Schriftsprache Gewalt angetan, die quasi-natürliche Entwicklung, um deren Verständnis man sich eigentlich bemühen sollte, gewaltsam abgeschnitten und eine unplausible, der Intuition widersprechende Vorschrift geschaffen, die nur unter ständigem Zwang eine Zeitlang durchgesetzt werden kann. Besonders in der Schule muß sich solche geistlose Willkür schädlich auswirken. Dem Lehrer wird es ja verwehrt, die allgemeine Gesetzmäßigkeit der hochinteressanten Verbzusatzkonstruktionen in ihrer inneren Logik zu erklären. Man erinnere sich an die millionenfach abgedruckte Auskunft des Reformers Klaus Heller, übrig bleiben müsse jetzt getrennt geschrieben werden wie freundlich grüßen!

Der zweite große Bereich betrifft tatsächlich die Wortbildung, nämlich die Entstehung von Zusammensetzungen nach den Mustern fleischfressend, aufsehenerregend, zufriedenstellend, alleinstehend, braungebrannt, wohlverdient und einigen kleineren Modellen wie hochempfindlich.

Ausdrücke wie fleischfressend, erdölproduzierend, blutsaugend sind durch Objektinkorporation entstanden und werden meist klassifizierend gebraucht, fleischfressend zum Beispiel als Übersetzung des Fachausdrucks karnivor, fruchttragend für fructifer usw. Dem steht die in vielen Fällen weiterhin mögliche Behandlung als Wortgruppe gegenüber: [rohes] Fleisch fressend usw. Bei gesamthafter Steigerung (noch aufsehenerregender) und prädikativem Gebrauch (die Arbeit ist zufriedenstellend) kommt aus grammatischen Gründen nur die Zusammensetzung in Frage, da das Partizip I nicht prädikativ gebraucht wird (vgl. z. B. Dudengrammatik 2005, S. 363, Autor: Peter Gallmann). Die Reform sah in einem ersten Anlauf vor, diesen ganzen Wortbildungsprozeß zu annullieren; mit zwei oder drei erratischen Ausnahmen im amtlichen Wörterverzeichnis (gewinnbringend) wurden sie alle beseitigt. Nach jahrelangen Ringen sind sie im Juni 2004 sämtlich wiederzugelassen worden, ohne daß allerdings die Gründe für die unterschiedliche Behandlung so deutlich ausgeführt wären, wie es vor der Reform der Fall war. Immerhin sieht man nun im revidierten amtlichen Wörterverzeichnis etwa 90 und im neuesten Duden rund 420 wiederhergestellte Wörter dieser Art als neue „Varianten“ – ein eindrucksvolles Eingeständnis früherer Irrtümer.

Das ganze Kapitel muß jedoch von Grund auf neu durchgearbeitet werden, um den Charakter eines nur widersrebend unter dem Druck der Kritik angefertigten Flickwerkes loszuwerden. Die vieldiskutierten Problemfälle wiederherstellen, hochverdient, vielgeliebt usw. sind ja immer noch nicht wirklich klargestellt und werden daher von reformierten Schulwörterbüchern usw. oft ganz unterdrückt. Am besten wäre es, den in langen Zeiträumen gewachsenen Bereich mit seinen Übergangszonen, aber auch seinen grammatisch gebotenen Beschränkungen so darzustellen, wie er sich in sorgfältig redigierten Texten selbst darbietet. (Ein Versuch in dieser Richtung ist mein eigenes Rechtschreibwörterbuch „Normale deutsche Rechtschreibung“.)



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