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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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23.06.2005
 

Neuer Schlauch

Das Moratorium war die wahrscheinlichste „Lösung“.
Wenn es tatsächlich dazu kommt, können wir schon mal überlegen, was es bedeutet.
Zunächst einmal sieht die Öffentlichkeit, daß es mit der besten Rechtschreibreform aller Zeiten nicht so recht vorwärtsgeht.
Dann steht fest, daß es ein weiteres Jahr keine Rechtschreibunterricht mehr geben wird – Pech für die 14 Millionen Schüler, die immer noch glauben, in der Schule würden ihnen Basistechniken beigebracht.
Ein Jahr ist viel Zeit. Es reicht jedenfalls aus, die Unhaltbarkeit der mehrfach reparierten, aber eben leider irreparablen Reform auch dem Letzten klarzumachen.
Der Rat wird doch mehr arbeiten müssen, als er es sich für die nächsten Jahre vorgestellt hat. Die Arbeitsgruppen müssen wieder ran. Es gilt, die Groß- und Kleinschreibung zurückzunehmen, und vor den Augstschen Phantastereien wird man auch nicht haltmachen. Nach einem Jahr kann naturgemäß von der Reform nichts mehr übrig sein.
Mit dieser Aussicht dürfte es einigen großen Medien nicht schwerfallen, nun dem Spuk ein Ende zu bereiten. Ich kann mir den Chefredakteur oder Verleger nicht recht vorstellen, der jetzt noch sagt: Machen wir erst mal so weiter und sehen zu, was die Arbeit des Rates am Ende erbringt.
Wie sieht denn die Agenturschreibung angesichts der Arbeit des Rates in den letzten Monaten aus? Ziemlich aus der Welt, die Leute.
Falls der Rat überhaupt noch weiterarbeiten will, wozu aber manche Mitglieder nicht viel Lust verspüren dürften, müßte er sich allmählich vom Korsett der Neuregelung freimachen und den neuen Wein tatsächlich in einen neuen Schlauch gießen. Es wirkt allmählich lächerlich, immer noch so zu tun, als paßten die bewährten Schreibweisen in das nichtbewährte Regelwerk. Schon den § 34 und die folgenden zerreißt es ja förmlich nach allen Seiten. Die Vorgabe, daß der äußere Rahmen erhalten bleiben müsse, stammt noch aus dem Abwehrarsenal der entlassenen Kommission.
Die leidende Öffentlichkeit müßte auch stärker dagegen protestieren, daß aus der abgehalfterten Kommission immer noch sieben Genossen im Rat sitzen. (Lauter Dudenautoren, nebenbei, dazu noch die beiden Deutschen, so daß Duden tatsächlich sechsmal im Rat vertreten ist.)

Nachtrag: Inzwischen hat sich die MPK hinter der Sperrminorität einiger SPD-Länder verschanzt und das Moratorium wieder abgeblasen. Das spielt keine große Rolle, weil die Wirkung in der Öffentlichkeit noch verheerender ist. Soweit ich weiß, ist die MPK so wenig ein Verfassungsorgan wie die KMK: »Ministerpräsidentenkonferenz ist eine Form der Kooperation zwischen den Ländern in der Bundesrepublik Deutschland, die sich auf die Beratung von Grundsatzfragen beschränkt, ohne daß der Konferenz eine Beschlußkompetenz übertragen ist. Teilnehmer sind die Ministerpräsidenten oder ihre Stellvertreter.« (Rechtslexikon) Einstimmigkeit kann sie sich verordnen oder es auch bleiben lassen. Wenn die Unionsländer sich nicht wehren, stehen Wulff und seinesgleichen endgültig als Papiertiger da. Im „Rat“ wird man weiterhin so tun, als beschäftige man sich mit einer seriösen Angelegenheit, aber ganz ohne Einfluß auf die Stimmung wird es nicht bleiben. Bin wirklich gespannt, wer nächsten Freitag noch zur Komödie erscheint. Und dann erst, wenn wir die „unstrittigen“ Reformteile diskutieren!



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Kommentare zu »Neuer Schlauch«
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Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 29.06.2005 um 07.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=154#587

Wenn der alte Wein besser schmeckt, es aber gar nicht darum geht ...

In meinem letzten Beitrag geriet ich bei der Zuordnung von neu und alt ins Schleudern. Am Ende sagte ich über die Arbeit des Rates für deutsche Rechtschreibung:

Jedoch: Es wird noch immer so getan, als handle es sich auf jeden Fall nicht um das alte Modell, sondern natürlich um ein neues neues Modell.

Statt dessen hätte es im Sinn der vorigen Zusammenstellung eher heißen müssen:

Jedoch: Es wird noch immer so getan, als handle es sich auf jeden Fall nicht um ein neues Modell, sondern natürlich um das alte Modell.

Es ist auch wirklich schwierig, wenn das Alte neu genannt wird und das Moderne als alt ausgeben wird. Wenn die Kultusminister seit 1996 plötzlich urkonservativ geworden sind und überhaupt nichts mehr verändern wollen. Wenn die Neuerer jede Neuerung scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Oder: Wenn das Alte besser ist als das Neue. Das ist nicht erst in Zeiten des Reformwahns schwierig auseinanderzuhalten, schon der Evangelist Lukas war damit überfordert. Vergleiche:

Markus 2,22: Und niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche; sonst zerreißt der Wein die Schläuche und der Wein ist verloren und die Schläuche auch; sondern man soll neuen Wein in neue Schläuche füllen.

Matthäus 9,17: Man füllt auch nicht neuen Wein in alte Schläuche; sonst zerreißen die Schläuche und der Wein wird verschüttet und die Schläuche verderben. Sondern man füllt neuen Wein in neue Schläuche, so bleiben beide miteinander erhalten.

Und was macht Lukas daraus?

Lukas 5,37-39: Und niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche; sonst zerreißt der neue Wein die Schläuche und wird verschüttet und die Schläuche verderben. Sondern neuen Wein soll man in neue Schläuche füllen. Und niemand, der vom alten Wein trinkt, will neuen; denn er spricht: Der alte ist besser.

Der letzte Satz bzw. Vers ist zwar inhaltlich nicht zu beanstanden, aber Lukas hätte ihn gar nicht niederschreiben dürfen. Sonst müßte er dieselbe Frage beantworten wie der Rat: Wohinein soll man alten Wein gießen - doch nicht etwa in alte Schläuche? Und die eigene Rede vom neuen Wein wird unbemerkt ins Lächerliche gezogen: Neuer Wein sei sowieso minderwertig.

Wobei Lukas noch übersichtliche Verhältnisse vorfand, denn es war ja seinerzeit nicht so, daß die Obrigkeit verfügt hätte, auf Schläuche mit gutem altem Wein sei das Etikett "Verwerfen!" zu heften und auf Schläuche mit gepanschtem, ungenießbarem Wein das Etikett "Amtlich anerkanntes Qualitätsprodukt, freigegeben für Kinder ab 6 Jahren".
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 25.06.2005 um 08.20 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=154#570

Theodor Ickler: Falls der Rat überhaupt noch weiterarbeiten will ... müßte er sich allmählich vom Korsett der Neuregelung freimachen und den neuen Wein tatsächlich in einen neuen Schlauch gießen. Es wirkt allmählich lächerlich, immer noch so zu tun, als paßten die bewährten Schreibweisen in das nichtbewährte Regelwerk. Schon den § 34 und die folgenden zerreißt es ja förmlich nach allen Seiten.

Das kann irgendwann sehr schnell gehen. Man braucht vielleicht einfach noch mehr Sitzungen des Rates. Ich will das einmal an folgender Gegenüberstellung verdeutlichen.

Phase 0
Prinzip: Alter Wein in alten Schlauch (Modell A)
Zeitpunkt: August 1996
Name: Rechtschreibreform
Veraltete Schreibweisen aus dem 19. Jahrhundert sollen in einem bisher unbekannten Kunstgriff ("modern") über das Ventil des Schulunterrichts der Gesellschaft eingetrichtert werden. Die Zuverlässigkeit des Ventils wird zutreffend beurteilt, die Dichtheit des Schlauchs (Regelwerk) und das Fassungsvermögen des aufzublähenden Hohlkörpers (Summer der Gehirne aller deutschen Schreiber) wird jedoch überschätzt.

Phase 1
Prinzip: Alter Wein (neue Abmischung) in alten Schlauch (Modell B)
Zeitpunkt: November 2004
Name: Amtliche Regelung, überarbeitete Fassung 2004
Darstellung: Zwischenstaatliche Kommission (inzwischen aufgelöst)
Quelle: http://www.ids-mannheim.de/reform
Die Neuregelung wird ein bißchen verändert, unter anderem durch Zugabe von Spuren bewährter Schreibweisen. Dadurch soll der Überdruck im Schlauch etwas gemildert werden. Der Versuch wird in einem Hinterzimmer durchgeführt und schafft keine Abhilfe.

Phase 2
Prinzip: Neuer Wein in alten Schlauch (Modell B)
Zeitpunkt: 9.5.2005
Name: Revision, ursprünglich geplant bis August 2005, jetzt "zu einem späteren Zeitpunkt"
Darstellung: Kerstin Güthert vom Rat für deutsche Rechtschreibung
Quelle: www.eurac.edu/Focus/languagechange_Guethert_de.htm

Frage: Was wird genau an der aktuellen Rechtschreibung nochmals verändert oder revidiert?
Güthert: Nehmen wir ein prominentes Beispiel aus dem Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung: jemanden fertigmachen, im Sinne von jemanden zermürben. Das schrieb sich nach der alten Rechtschreibung zusammen, nach der neuen muss man es getrennt schreiben, weil es auf -ig endet - eine Ausnahmeregel der neuen Rechtschreibung.
Die Arbeitsgruppe des Rates, die sich mit der Getrennt- und Zusammenschreibung beschäftigt, schlägt nun vor, diese Fälle, wie fertigmachen oder heiligsprechen zusammenzuschreiben. Und zwar deswegen, weil man erstens an der Betonung auf der ersten Silbe hört, dass es sich um ein Wort handelt und nicht um zwei. Und zweitens, weil man es nicht steigern oder erweitern kann. Man kann jemanden nur fertig machen, ihn aber nicht *fertiger machen. Nach der Neuregelung von 2004 hat man zum Beispiel auch schon einen Politiker kaltstellen zusammenschreiben müssen, eben aus dem gleichen Grund: weil man ihn ja nicht *kälter stellen kann. Diese bestehende Regelung soll nach dem Willen der Arbeitsgruppe nun auch auf Fälle wie fertig machen angewendet werden.

Frage: Also doch eine Reform der Reform?
Güthert: Nein, wie das Beispiel schon zeigt, nimmt der Rat eine Weiterentwicklung der bestehenden Rechtschreibung, der Neuregelung in der Fassung von 2004, vor. Er verstärkt die Prinzipien, die schon gelten ...

Kommentar: Man merkt deutlich, wie sich Frau Güthert um die Zusicherung bemüht, es werde keinesfalls ein neues Schlauchmodell eingeführt. Das Modell B solle nur "weiterentwickelt" und im Prinzip sogar gestärkt werden. Deshalb hebt Frau Güthert hervor, die Steigerbarkeit-Regel (noch vom Modell A) werde weitergelten und ausgedehnt werden. Es sollten nur mehr bewährte Schreibweisen damit wiederhergestellt werden. Das beruht freilich nicht auf einer Ausdehnung der Steigerbarkeit-Regel, sondern einerseits auf der Abschaffung der ig-Regel (ebenfalls noch vom Modell A), vor allem aber darauf, daß eben vor allem bewährte Schreibweisen wiederhergestellt werden sollen. Sie sagt noch, man höre an der Betonung, daß fertigmachen ein Wort sei und nicht zwei Wörter. Das trifft nicht zu, entspricht aber immerhin dem Stand 2004 der Neuregelung (siehe § 34, letzter Satz im Kasten). Überhaupt noch nicht ist die Rede davon, daß jemanden fertigmachen oder kaltstellen eine spezielle Bedeutung im Vergleich zu den Bestandteilen fertig und kalt haben und davon, daß das ein Motiv für die Zusammenschreibung sein könnte.

Phase 3
Prinzip: Neuer Wein in alten Schlauch (Modell C, Prototyp vom Juni 2005)
Zeitpunkt: 3.6.2005
Name: Revision, jetzt geplant bis etwa Mitte 2006
Darstellung: Rat für deutsche Rechtschreibung
Quelle: http://rechtschreibrat.ids-mannheim.de/doku/para34.html

§ 34 (2.2)
Es wird zusammengeschrieben, wenn der adjektivische Bestandteil zusammen mit dem verbalen Bestandteil eine neue, idiomatisierte Gesamtbedeutung bildet, die nicht auf der Basis der Bedeutungen der einzelnen Teile bestimmt werden kann, zum Beispiel:
krankschreiben, freisprechen, (sich) kranklachen; festnageln (= festlegen), heimlichtun (= geheimnisvoll tun), kaltstellen (= (politisch) ausschalten), kürzertreten (= sich einschränken), richtigstellen (= berichtigen), schwerfallen (= Mühe verursachen), heiligsprechen

Kommentar: Nach nur einem Monat gibt es etwas ganz Neues: das früher Übliche und Bewährte in übertriebener Zuspitzung. Plötzlich gibt es keine Erweiterbarkeit-Regel mehr und keine -ig-Regel. Von der Betonung - erst 2004 prominent wiedereingeführt - ist an dieser Stelle ebenfalls nicht mehr die Rede. Dafür soll jetzt die Bedeutung - seit 1996 praktisch ausradiert - einen überragenden Rang einnehmen. Das führt zwar noch nicht zu dem Ergebnis, die bewährten Schreibweisen möglichst vollständig zu rehabilitieren, aber die Richtung ist unverkennbar. Jedoch: Es wird noch immer so getan, als handle es sich auf jeden Fall nicht um das alte Modell, sondern natürlich um ein neues neues Modell.

Mein Eindruck: Sobald der Rat tagt, geht es vorwärts. Von mir aus kann er auch noch lange versuchen, rissige alte Schläuche zu flicken und zu befüllen. Hauptsache, man nimmmt den richtigen Wein. Um die berstenden Schläuche mache ich mir keine Sorgen. Nachschub an neuem Wein gibt es immer. Es genügt zum Beispiel, die BILD-Zeitung zu lesen.
 
 

Kommentar von Matthias Künzer, verfaßt am 24.06.2005 um 11.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=154#562

Konrad Schultz: "Außer Wowereit wohl kaum ein richtiger Befürworter der Reform, [...]"

Klaus Wowereit hat seine Kompetenz in solchen Fragen ja bereits eindrucksvoll demonstriert.

"Wowereit konnte aber weder das Wort 'Rhythmus' richtig buchstabieren, noch wußte er eine Antwort auf die Frage: 'Von wann bis wann dauerte der Zweite Weltkrieg?' "

http://morgenpost.berlin1.de/content/2004/12/13/titel/722168.html

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.06.2005 um 11.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=154#561

Der Bundeselternrat gehört zur "Verbändeallianz" der Schulbuchverleger. Daher überrascht es nicht, daß der Vorsitzende sich mit automatenhafter Zuverlässigkeit sogleich hinter den Beschluß der Ministerpräsidenten gestellt hat. Jetzt warten wir noch auf das gleichsinnige Votum der Bundesschülervertretung, die ebenfalls fest in den Händen der Schulbuchlobby ist. Natürlich wissen weder die Eltern noch die Schüler in Deutschland, daß und durch wen sie "vertreten" werden. Die Lehrer werden außer dem einschlägig bekannten, aber isolierten Josef Kraus, nichts anderes sagen: Meidinger hat es bereits mehrmals zu erkennen gegeben, und Eckinger gehört sowieso zum Stammpersonal der Reformdurchsetzer. Jetzt ist es fast schade, daß Heinz Durner nicht mehr den Philologenverband vertritt - ob er seinem Schulfreund Zehetmair so in den Rücken gefallen wäre?

Mir kommt es jetzt immer wahrscheinlicher vor, daß der Vorstoß der Unionspolitiker nur ein Scheingefecht für das Wählervolk war. Sie mußten ja wissen, daß sie keine "Einstimmigkeit" zu erwarten hatten. Natürlich könnte jeder für sich aus dem Konsens ausscheren, aber "Einstimmigkeit" ist ein prima Vorwand, den man nicht antasten wird. Roland Koch (samt Ministerin Wolff) ist ja schon vor geraumer Zeit umgedreht worden, so daß die Schulbuchverleger mit Stolz auf die von Koch besonders ausführlich zugesicherte Unterstützung verweisen können.

Die Schulbuchlobby und die mit ihr verbandelte Ministerialbürokratie - das sind die beiden weitgehend anonymen Kräfte, die im Hintergrund alle Fäden in der Hand haben. Wenn man das nicht weiß, kann man das Geschehen auf der Bühne wirklich nicht verstehen.
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 23.06.2005 um 17.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=154#553

Die SPD-Ministerpräsidenten lehnten am Donnerstag in Berlin den Vorstoß der Unions-Regierungschefs ab, die Reform komplett um ein Jahr zu verschieben und dann gleich zusammen mit den bis dahin noch zu überarbeiteten Teilen in Kraft treten zu lassen. Eine solche Entscheidung hätte aber die Ministerpräsidentenkonferenz nur einstimmig treffen können. (dpa)

Und wenn die Ministerpräsidenten im Rahmen ihrer Richtlinienkompetenz für die Landespolitik den Beschluß fassen wollen, den umstrittenen Plan ihrer Kultusminister umzusetzen, demnächst bestimmte Teile der Reform notenwirksam in Kraft treten zu lassen, während andere Teile noch der Überarbeitung harren?

Dann gibt es wieder keine Einstimmigkeit, also ist der Beschluß gescheitert und dieses Vorgehen blockiert.

Nach dieser Logik funktioniert das, worüber man nicht abstimmt. Worüber man abstimmt, scheitert, ist nicht machbar. Also muß man von dem, was man durchsetzen will, das Gegenteil beantragen - und schon hat man freie Bahn.

 
 

Kommentar von dpa, verfaßt am 23.06.2005 um 17.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=154#551

Kein Aufschub für Rechtschreibreform - SPD lehnt Unionsvorstoß ab

Berlin (dpa) - Die unstrittigen Teile der Rechtschreibreform werden wie geplant zum 1. August dieses Jahres für Schulen und Behörden verbindlich. Die SPD-Ministerpräsidenten lehnten am Donnerstag in Berlin den Vorstoß der Unions-Regierungschefs ab, die Reform komplett um ein Jahr zu verschieben und dann gleich zusammen mit den bis dahin noch zu überarbeiteten Teilen in Kraft treten zu lassen. Eine solche Entscheidung hätte aber die Ministerpräsidentenkonferenz nur einstimmig treffen können.

Brandenburgs Regierungschef Matthias Platzeck (SPD) sagte: «Es muss jetzt Klarheit herrschen». In den Schulen würden die neuen Schreibweisen bereits seit Jahren unterrichtet. Bremens Bürgermeister Henning Scherf (SPD) sagte, die Ministerpräsidenten «fallen ihren Kultusministern nicht in den Rücken».

Die Kultusminister hatten sich Anfang Juni einstimmig darauf verständigt, zunächst die unstrittigen Reformteile mit Beginn des neuen Schuljahres für verbindlich zu erklären. Abweichungen von den neuen Schreibweisen sollten fortan von den Lehrern nicht nur gekennzeichnet, sondern auch als Fehler gewertet werden.

Als weitgehend [!] unstrittig gelten die neuen Regeln für die Groß- und Kleinschreibung und die Laut-Buchstaben-Zuordnung (Stängel statt bisher Stengel, aufwändig statt aufwendig oder Soße statt Sauce [!]).

In den Streitfällen hingegen, wo in nächster Zeit Empfehlungen des Rates für deutsche Rechtschreibung zu erwarten sind, sollen die Lehrer «Toleranz» üben und keine Fehler werten. Dies gilt vor allem für die Getrennt- und Zusammenschreibung, die Silbentrennung und die Zeichensetzung. Diese Teile sollen nach ihrer Überarbeitung nachträglich in das verbindliche Regelwerk eingeführt werden.

Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) bezeichnete dieses geteilte in Kraft treten [!] der Reform als nicht sinnvoll. Es schaffe für die Schüler mehr Verwirrung als Klarheit. Auch der Vorsitzende des Rechtschreibrates, der frühere bayerische Kultusminister Hans Zehetmair (CSU) sagte, er hätte einem kompletten Aufschub um ein Jahr begrüßt.

Dagegen kritisierte der Bundeselternrat den Vorstoß der Unions-Ministerpräsidenten. Es sei pädagogisch unsinnig, Beschlüsse immer wieder umzustoßen, sagte Elternratsvorsitzender Winfried Steinert der dpa. Die Kultusminister hätten sicher mehr Fachkompetenz in dieser Frage als die Ministerpräsidenten.

Der Rat für deutsche Rechtschreibung war von den Kultusministern nach den heftigen Protesten gegen die Reform eingesetzt worden. In ihm arbeiten jetzt auch Kritiker der Reform mit. Mit großer Mehrheit hatte er sich unlängst auf Empfehlungen für die besonders umstrittene neue Getrennt- und Zusammenschreibung verständigt. Danach sollen Verben wie wie heilig sprechen und fertig machen nicht mehr getrennt sondern wieder zusammen geschrieben werden.

Zehetmair hatte dazu erklärt, auch einem Leser müsse klar werden, ob es sich in einem Text um einen «vielversprechenden» oder um einen «viel versprechenden Politiker» handele. Dazu wollen die Kultusminister jetzt die Lehrer- und Elternorganisationen hören. Empfehlungen zur Zeichensetzung und Silbentrennung sollen folgen.

(Achtung: Der aktuelle Stand des Rechtschreib-Regelwerkes ist im Internet zugänglich: www.rechtschreibkommission.de [!])
 
 

Kommentar von Konrad Schultz, verfaßt am 23.06.2005 um 15.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=154#548

Die bisherigen Beschlüsse der KMK wie auch der Ministerpräsidentenkonferenz waren bisher nur der Form nach einstimmig. So hatte letztens Wulff gekuscht, nachdem er gemerkt hatte, daß er für seine Meinung keine Mehrheit kriegt. Es gab einen "einstimmigen" Beschluß, es bei der Reform bleibe zu lassen. So ein Beschluß war gar nicht nötig, denn ein nicht-einstimmiger oder ein ausbleibender Beschluß hätte dieselbe Wirkung gehabt. Warum soll es jetzt nicht umgekehrt analog gehen? Immerhin herrscht in 9 Bundesländern die Union mit oder ohne FDP (von der FDP werden keine Schwierigkeiten zum Thema zu erwarten sein), in zwei Ländern besteht eine große Koalition unter CDU-Führung (Sachsen mit großer Mehrheit, Schleswig-Holstein mit winziger Mehrheit), in drei Ländern herrscht die SPD mit CDU (Brandenburg, Bremen) oder FDP (Rheinland-Pfalz), und zwei Länder sind rot-rot. Außer Wowereit wohl kaum ein richtiger Befürworter der Reform, und sollte der nicht in die Disziplin genommen werden können (nicht die von Müntefering)? Wichtiger ist vielleicht, ob die Ministerpräsidenten ihre eigenen Kultusminister disziplinieren werden.
 
 

Kommentar von Tagesschau, verfaßt am 23.06.2005 um 15.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=154#547

Ministerpräsidentenkonferenz in Berlin

Letzte Kraftprobe um Rechtschreibreform

Der Streit um die Rechtschreibreform hat heute erneut zu einer Kraftprobe geführt. Auf der Ministerpräsidentenkonferenz in Berlin überraschten die unionsgeführten Bundesländer plötzlich mit der Forderung, die Reform um ein Jahr zu verschieben.

Damit stellten sich die Unions-Ministerpräsidenten gegen einen Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK). Die Kultusminister hatten Anfang Juni vereinbart, dass die neuen Rechtschreibregeln in unstrittigen Bereichen zum 1. August 2005 verbindlich werden. Nur für strittige Regelungen wie die Getrennt- und Zusammenschreibung sollte weiter eine Übergangsfrist gelten.

Einstimmige Entscheidung nötig

Die SPD-Länder lehnten den Wunsch der Union jedoch ab. Damit ist eine Verschiebung hinfällig, da alle Länder diese Entscheidung einstimmig hätten treffen müssen. Damit bleibt es nun beim Beschluss der Kultusminister.

Das Inkrafttreten der Reform zum 1. August 2005 war von den Länder-Regierungschefs 1997 einstimmig beschlossen worden, nachdem auch das Bundesverfassungsgericht den neuen Schreibweisen seinen Segen gegeben hatte. Ab diesem Zeitpunkt sollten die Lehrer Abweichungen von den neuen Schreibweisen in Schülerarbeiten nicht nur kenntlich machen, sondern auch als Fehler werten.

Stand: 23.06.2005 15:15 Uhr
 
 

Kommentar von Fritz Koch, verfaßt am 23.06.2005 um 15.16 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=154#546

Politisch muß man nun wohl zwischen "sozialistischer" und "bürgerlich-liberaler" Rechtschreibung unterscheiden.
Der Spruch des Herrn Müntefering von den "Hochwohlgeborenen" wirkt sogar bei der neuen "Linkspartei" aus PDS und WASG. Bei der Parteigründung der WASG wurden die Mitglieder zu allem um ihre Meinung befragt, nur nicht zur zu verwendenden Rechtschreibung; da wurden sie undemokratisch bevormundet.
 
 

Kommentar von Reinhard Markner, verfaßt am 23.06.2005 um 15.09 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=154#545

Das ist eine ausgezeichnete Entwicklung. Unsere Mahnungen haben Beachtung gefunden und sind doch in den Wind geschlagen worden. Der Ärger bei CDU, CSU und FDP dürfte beträchtlich sein. Ebenso bei Hans Zehetmair. Darüber hinaus zeigt sich, daß hier nur noch Malefiz gespielt wird, reine Blockadepolitik. Das ist den Bürgern nicht zu vermitteln. Schließlich bleiben die juristischen Wege offen; Schülern sollen gegen den Willen der Mehrheit der Ministerpräsidenten Schreibungen angestrichen werden, die außerhalb der Schule weiterhin üblich sind.
 
 

Kommentar von Matthias Künzer, verfaßt am 23.06.2005 um 15.04 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=154#544

Quelle?

Wieviele SPD-Ministerpräsidenten gibt es denn noch? 6 von 16? Und die bestimmen über die 10 anderen?

Jedenfalls ist keine Einstimmigkeit vonnöten, da die Kultuspolitik Ländersache ist.
Verantwortlich dafür, ob in Nordrhein-Westfalen die NDRS gelehrt wird, ist Rüttgers und nicht Wowereit.
 
 

Kommentar von Christian Dörner, verfaßt am 23.06.2005 um 14.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=154#543

Soeben wurde bekanntgegeben, daß die Ministerpräsidenten der SPD-geführten Länder den Moratoriumsvorschlag der Union abgelehnt hätten, so daß es in jedem Fall beim Beschluß der KMK bliebe, daß die »unstrittigen Teile« der Reform pünktlich zum 1. August 2005 in Kraft träten.

Für eine Änderung dieses Beschlusses wäre Einstimmigkeit unter allen 16 Ministerpräsidenten vonnöten gewesen.
 
 

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