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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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19.07.2012
 

Reflexiv oder anaphorisch
Unsicherer Gebrauch

Während die Grammatiker besonders seit Chomsky unendlich viel über Pronominalisierung und "Bindung" geschrieben und die vermuteten Regeln zum Teil sehr rigoros formalisiert haben, ist der wirkliche Sprachgebrauch durchaus ungefestigt.

Wir hatten wohl schon mal Beispiele wie dieses:

Ich zeige den Leuten sich selbst im Spiegel. Ich empfehle den Leuten sich selbst als Kandidaten.

Gisela Zifonun findet das ganz in Ordnung, aber man müßte die Beleglage klären.

Aus der Zeitung:

Ein Chef, der die Zustände unter ihm nicht erkennt: Was ist denn das für ein Chef? (SZ 18.7.12)

Wie steht es hiermit:

In diesem Buch erweiterte er die Einsichten und Erkentnisse der Sprachwissenschaftler vor ihm. (Helmut Ludwig: Gepflegtes Deutsch. Leipzig 1983:22)



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Kommentare zu »Reflexiv oder anaphorisch«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 13.08.2017 um 05.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1532#35975

Noam Chomsky hat sich hauptsächlich mit der "Bindung" von Pronomina beschäftigt. Daher legte auch seine (inzwischen verstorbene) Frau Carol Chomsky in ihrer bekanntesten Arbeit über Grammatikerwerb ihren kindlichen Versuchspersonen entsprechende Beispielsätze vor. Aus einem Bericht:

Few five-year olds, for example, could recognize with any consistency that the pronoun he, in a sentence such as "He found out that Mickey won the race", has to refer to someone other than Mickey.

So einfach ist das alles nicht, und diese Untersuchung krankt wie fast alle anderen an der Kontextlosigkeit der Testsätze.

Bei der Pronominalisierung (und Renominalisierung) geht es um drei ganz verschiedene Steuerungsfaktoren: Struktur, Reihenfolge und Betonung/Gewicht. Erstens also um die Frage, ob aus dem Obersatz in den Untersatz und wieder heraus pronominalisiert wird, auch aus dem Attribut heraus und hinein.
Zweitens um Reihenfolge und Kontext (weshalb man auch von Vorwärts- und Rückwärtspronominalisierung spricht; während die "Struktur" oder Dependenz eigentlich kein Nacheinander kennt). Also:
Knigges Tod hat ihn womöglich vor bitteren Konsequenzen bewahrt. (SZ 4.5.96)
Hier kann das Pronomen auf Knigge bezogen werden, im folgenden, strukturell gleichen Satz eher nicht:
Ihn hat Knigges Tod womöglich vor bitteren Konsequenzen bewahrt.
Drittens Betonung/Gewicht:
Ihn selbst hat Knigges Tod womöglich vor bitteren Konsequenzen bewahrt.
Dies wäre in einem entsprechenden Kontext so zu verstehen, daß Knigge selbst gemeint ist. Die Pronominalphrase hat jetzt mehr Gewicht als die tonlose Renominalisierung.

Die Experimente mit Kindern haben etwas Lebensfremdes. Die Präsentation isolierter Einzelsätze verkennt, daß Kinder auch gegen die Grammatik einen Sinn in das Gehörte zu bringen versuchen.

(Seit 50 Jahren bearbeiten die Generativisten mit geringen Abweichungen Sätze wie He knew that John had won.) Ich sehe es gerade in uralten Exzerpten. Die Versuchung, solche Dinge in quasi-logische Formalismen zu übersetzen, muß groß sein. Aber so funktioniert Sprache nicht.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.11.2014 um 04.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1532#27302

„Es wird sich im folgenden an den Empfehlungen zum Förderschwerpunkt Sprache der Kultusministerkonferenz vom 26.06.1998 orientiert.“ (von einer sonderpädagogischen Website)

Das Deutsch der Sprachförderer bedarf offenbar auch einer gewissen Förderung. Aber das ist die geringere Aufgabe angesichts der fortschreitenden Aufblähung amtlicher Texte. Die genannten "Empfehlungen" sind auch ein Beispiel. Wenn die KMK einen Text durch einen neuen ersetzt, kann man sicher sein, daß der neue länger ist, auch abstrakter. Länge ist geradezu ein Qualitätsmerkmal; deshalb stört auch die feministische Aufblähung nicht, im Gegenteil. Mit diesem Argument können wir daher nichts erreichen. (Kultusminister, die Millionen Euro dafür ausgeben, daß die Studentenwerke in Studierendenwerke umbenannt werden, sind ohnehin für Argumente nicht zugänglich.)
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.11.2012 um 05.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1532#21834

Ein wenig erinnert der Machismo und das wie eine Monstranz vor sich hergetragene Selbstbewusstsein des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan daran. (Welt 31.10.12)

Vor wem oder was wird die Monstranz hergetragen? (Erdogan mit der Monstranz ist natürlich auch schwer vorstellbar ...)
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 23.07.2012 um 17.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1532#21130

"Wir treffen sich" halte ich für einen Slawismus, von denen es in der österreichischen Umgangssprache ganz viele gibt, nicht nur einzelne Wörter, sondern ganze Redewendungen ("auf ein Bier gehen" usw.). Österreich war bis 1918 ein Vielvölkerstaat. Auch die Flüchtlingskinder aus den früheren deutschen Ostgebieten hatten so komische Ausdrücke, die ich als Kind lustig fand ("nach Brot gehen" für Brot holen), aber jetzt als Slawismen zuordnen kann.
 
 

Kommentar von Silberfulminat, verfaßt am 23.07.2012 um 07.25 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1532#21128

Hier in Niederösterreich geht es reihenweise "Mir rufen sich zsamm", "Mir treffen sich" usw. sowie reihenweise "I schlag eam", "I sog eam Bescheid", "I ruf eam ao", was aber eine andere Angelegenheit ist. Das reflexive "sich" jedenfalls ist jeden Tag tausendfach zu hören.
 
 

Kommentar von Kurt Albert, verfaßt am 21.07.2012 um 19.35 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1532#21119

Ein schönes Beispiel für Unsicherheiten im Sprachgebrauch. Knifflig sind auch Fälle nach diesem Muster:
"Meine Frau und ich freuen sich/uns, wenn Sie uns bald besuchen."

Hier neige ich zu "uns", in Analogie zu: "Meine Frau und ich, wir freuen uns ..."
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.07.2012 um 11.52 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1532#21114

Romney versucht durchaus, dem Mensch in ihm Konturen zu geben. (SZ 21.7.12)

= Romney versucht durchaus, dem Menschen in sich Konturen zu geben.
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 20.07.2012 um 12.54 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1532#21108

"Wir treffen sich" ist eher sudetendeutsche Umgangssprache.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.07.2012 um 10.49 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1532#21107

(...) bis ein Priester mich am Mantelsaum festhielt und lächelnd einlud, mich neben ihn zu setzen. (Heinrich Böll: Irisches Tagebuch)

Mit großer Höflichkeit hatte mich Reinhardt eingeladen, neben ihm Platz zu nehmen. (Willy Haas: Die literarische Welt. München 1960:130)

Sensoren auf dem Meeresgrund ermitteln den Druck des Wassers über ihnen. (SZ 3.2.07)

Hier wäre wohl überall auch das Reflexivum möglich.

Andererseits gibt es auch im Deutschen die Verallgemeinerung des Reflexivums nach dem Muster wir wollten unter sich sein.

Es ist nicht leicht für uns, sich vorzustellen, wie das ist: in einem Land zu leben, das seine Bewohner nicht gehen und kommen läßt, wie sie Lust haben. (Zeit 17.8.84)

Ein wenig irritiert ihn aber auch unsere Unfähigkeit, sich gegen Betrügerei zur Wehr zu setzen. (Christa Wolf: Voraussetzungen einer Erzählung. 1987:73)
 
 

Kommentar von Germanist, verfaßt am 20.07.2012 um 09.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1532#21105

Das unpersönliche Reflexivpronomen "sich" ist typisch für die slawischen Sprachen
 
 

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