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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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17.04.2009
 

Sind natürliche Sprachen „rekursiv“?
Realistische Betrachtungen zu einem linguistischen Gemeinplatz

In neueren sprachwissenschaftlichen Einführungsbüchern und Lexika wird Rekursivität als wesentliche Eigenschaft der menschlichen Sprache angeführt, nach Noam Chomskys neuerer Ansicht ist sie sogar das wichtigste, wenn nicht einzige bedeutsame Unterscheidungsmerkmal gegenüber dem Verhalten der Tiere.

Der Begriff der Rekursivität stammt aus Mathematik und Logik. Von dort ist er in die generative Grammatik übernommen, die ja die natürliche Sprache nach dem Vorbild eines mathematischen Kalküls zu modellieren versucht. Rekursivität ist also zunächst eine Eigenschaft, die man in das Modell hineinbaut, es wird aber behauptet, daß sie auch eine Eigenschaft der zu modellierenden natürlichen Sprachen selbst sei. Da sie – wenn man Feinheiten beiseite läßt – der Konstruktion von grundsätzlich unendlich langen Zeichenketten dient, die menschlichen Äußerungen jedoch durchweg von überschaubarem Umfang sind, unterscheidet man von Anfang an zwischen der idealisierten Sprache selbst, der sogenannten „Kompetenz“, und der durch menschliche Schwächen – etwa Gedächtnisgrenzen – beschränkten tatsächlichen Realisierung, der „Performanz“.

„Der wichtigste Fall von Idealisierung des linguistischen Objekts ist die Annahme, daß die Anzahl der Sätze in einer Sprache unendlich und die Satzlänge im Prinzip durch nichts begrenzt ist (d.h. es gibt stets Sätze, deren Länge jede vorher gegebene Satzlänge übertrifft). Bekanntlich ist die Zahl der geschriebenen oder gesprochenen Sätze faktisch in jeder Sprache endlich, wenn auch sehr groß; um jedoch die Fähigkeit des Sprechers zu erklären, völlig neue, vorher nie gesprochene oder geschriebene Sätze zu bilden, darf nicht diese tatsächliche, muß vielmehr eine gewisse ideale Situation untersucht werden, die allein den Schlüssel zur Lösung der Aufgabe enthält. Wenngleich alle tatsächlich gesprochenen und geschriebenen Sätze einer Sprache endlich lang sind, so gibt es doch für natürliche Sprache keine Regeln, die die Satzlänge begrenzen.“ (Jurij D. Apresjan: Ideen und Methoden der modernen strukturellen Linguistik. München 1971:87)

Eine Syntax „muß der Tatsache Rechnung tragen, daß eine natürliche Sprache prinzipiell uneingeschränkt (infinit) ist sowohl hinsichtlich der Länge wie der Vielzahl von Sätzen, die mit ihr gebildet werden können; sie muß in ihrem Instrumentarium von Baugesetzen also rekursive Mechanismen zur Verfügung haben.“ (Gudula List: Einführung in die Psycholinguistik. 2. Aufl. Stuttgart 1973:43f.)

„Die Regeln der Grammatik sind rekursiv, d.h. jeder Satz kann selbst Teil eines Satzes werden. Durch diese Eigenschaft der Grammatik natürlicher Sprachen wird gewährleistet, daß sie zum Ausdruck potentiell unendlicher vieler Bedeutungen eingesetzt werden kann.“ (Florian Coulmas in: Routinen im Fremdsprachenerwerb. Goethe-Institut 1986:3f.)

„Mehrfache Einbettungen sind im Deutschen durchaus üblich. Es gibt keine systematischen, vom funktionellen System her bedingten Grenzen der Anwendbarkeit dieses Verfahrens. Es gibt nur eine Norm, einen allgemeinen Usus, der die Deutschen z.B. davon abhält, in alltäglicher Rede allzuviele Einbettungen vorzunehmen und dadurch Sätze zu erzeugen, die in ihrer Komplexität vom Hörer überhaupt nicht mehr spontan analysiert werden können.“ (Eugenio Coseriu: Textlinguistik. Tübingen 1980:76)

„Aufgrund ihrer Eigenschaft, rekursive Strukturen erzeugen zu können, erklärt die generative Grammatik die Kreativität des menschlichen Sprachvermögens.“ (Grewendorf/Hamm/Sternefeld: Sprachliches Wissen. Frankfurt 1987:181)

„Die Zahl der möglichen Sätze oder Texte des Deutschen ist unendlich – und zwar nicht nur unendlich in dem Sinne, dass die Zahl der Kombinationen unabsehbar gross wäre, sondern unendlich im mathematischen Sinne. Dies hat seinen Grund im sogenannten Prinzip der Rekursivität (...) Auf diesem Mechanismus beruht der Reichtum und ein guter Teil der Flexibilität natürlicher Sprachen.“ (Linke/Nussbaumer/Portmann: Einführung in die Linguistik. 2. Aufl. 1994:9)

„Rekursivität. Aus der Mathematik übernommener Begriff, der in der Generativen Syntax die formale Eigenschaft von Grammatiken bezeichnet, mit einem endlichen Inventar von Elementen und einer endlichen Menge von Regeln eine unendliche Menge von Sätzen zu erzeugen. Auf diese Weise ist ein solches Grammatikmodell in der Lage, die durch Kreativität gekennzeichnete sprachliche Kompetenz des Menschen zu erfassen. (...)“ (Hadumod Bußmann: Lexikon der Sprachwissenschaft. 3. Aufl. Stuttgart 2002: 560f.)

„Zum Beispiel lassen sich Genitiv-Fügungen nicht beliebig schachteln, obwohl das Deutsche, grammatisch gesehen, keine Restriktionen kennt.“ (Eroms, Hans Werner: Stil und Stilistik. Berlin 2008:146)

Für Komposita postuliert Susan Olsen (Wortbildung im Deutschen. Stuttgart 1986:55) beliebige Einbettungstiefe und gesteht nur Performanzbeschränkungen zu.

Anwendungsfälle der postulierten Rekursivität sind, wie die Zitate teilweise schon erkennen lassen, vor allem die Bildung der Komposita, die Verkettung von Attributen und die Einbettung von Nebensätzen.

Gegen die behauptete Erklärungskraft des Rekursivitätsarguments steht zunächst eine offensichtliche Tatsache: Die unbestrittene Möglichkeit, immer wieder Neues auszudrücken, also die „Kreativität“ der menschlichen Sprache, macht ganz und gar nicht von immer längeren Ketten Gebrauch, wie es gemäß dem Postulat der Fall sein müßte. Was die deutschen Sätze betrifft, so werden sie in neuerer Zeit sogar eher kürzer als länger (worauf übrigens Eroms a.a.O. 156f. selbst hinweist).

Es soll Sprachen geben, die keine Rekursivität kennen; das ist jedoch umstritten und soll hier nicht diskutiert werden.

Es gibt – das sei zugegeben – keinen längsten deutschen Satz, kein längstes Kompositum usw. Aber das bedeutet nicht, daß deutsche Sätze unendlich lang werden können, auch nicht „theoretisch“ oder „im Prinzip“. Auch der längste Regenwurm kann durch einen noch längeren, der schwerste Elefant durch einen noch schwereren übertroffen werden, aber diese Tiere können dennoch nicht, auch nicht theoretisch und im Prinzip, unendlich lang oder schwer werden. Die Modellgesetze, die das verhindern, haben in natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, die wir wahrscheinlich noch nicht überblicken, ihre Entsprechung. Was jetzt in „Performanz“-Beschränkungen abgeschoben wird, ist möglicherweise gerade das Wesentliche. Anders gesagt: Wäre der Mensch nicht so, wie er ist, mit allen seinen Gedächtnisgrenzen, begrenztem Atemdruck, Gestaltwahrnehmung usw., dann wäre die Sprache vielleicht nicht im entferntesten so, wie sie ist und wie wir uns Sprachen vorstellen, oder sie würde gar nicht existieren – das können wir nicht wissen. Am ehesten leuchtet wohl ein, daß solche universellen Erscheinungen wie die Silbengliederung etwas mit der Atmung und der Anatomie und Physiologie des menschlichen Organismus zu tun haben. Wäre dieser ganz anders gebaut, sähe die Sprache zumindest im Bereich der Phonologie ganz anders aus.

Melodien können sehr kurz oder sehr lang sein, aber nicht unendlich lang, pace Wagner. Wäre der Mensch ganz anders, als er ist, so wäre auch seine Musik anders, falls es sie überhaupt gäbe.

Es ist zu erwägen, ob die zweite Einbettung qualitativ dasselbe ist wie die erste, die dritte wie zweite usw. Daß es sich hier jeweils um „denselben“ Vorgang handele, ist zunächst nur eine aus dem frei gewählten Modell stammende Forderung, keine empirische Tatsache. David Palmer beobachtet: „We can see the degrading of intraverbal control by inserting a relative clause of great length: 'I donated my grandfather's diary that he began when he was just a boy living in a small New England town after the Civil War to the historical society.' Here, all intraverbal control over the indirect object has been lost. Here, also, the behavioral interpretation parts ways with a linguistic interpretation, for the linguist's grammar places no restrictions on the length of relative clauses intervening between a verb and its indirect object.“ (http://www.behavior.org/computer-modeling/Palmer/palmer-speaker-listener4.cfm)

Matthias Hartig (Sprache und sozialer Wandel. Stuttgart 1981:25) gibt folgendes Beispiel einer rekursiven Konstruktion:

Ein Buch, das, welches am Samstag auf dem Markt erschienen war, ich gestern gelesen habe, ist verschwunden.

– womit er ungewollt beweist, daß solche Konstruktionen schon bald nicht mehr beherrscht werden.

Ob man eine Schachtelkonstruktion überhaupt noch als korrekt anerkennen will, ist nicht ohne theoretische Vorannahmen entscheidbar. Peter R. Lutzeier (Linguistische Semantik, Stuttgart 1985:7) führt als grammatisch korrekt gebildet an:

Das „Vorsicht-Glatteis“-Verkehrszeichen, das letzte Nacht, die Frostbildung, was für den Autofahrer, der etwas getrunken und ein Auto, das abgefahrene Reifen hat, hat, erhöhte Gefahren mit sich bringt, brachte, total beschädigt wurde, wird nicht mehr aufgestellt.

Es ist fraglich, ob der Laie dies als korrekt akzeptieren würde, da er möglicherweise nicht annimmt, daß weiterführende Relativsätze (was ...) an jeder beliebigen Stelle eingeschoben werden können, und auch noch an weiteren Punkten Bedenken hat.

Nach A. L. Blumenthal beurteilen Laien mehrfach eingebettete Relativsätze einfach als falsch und verstehen sie auch erst nach besonderen Übungen. („Observations with self-embedded sentences“. Psychonomic science 6, 1966:453–454)

Was macht nun wirklich die Kreativität der Sprache aus? Natürlich die ständige Umdeutung der bekannten Formen, also das Semantische. Jede neue Situation erfüllt die konventionellen Zeichen selbst in geläufigster Kombination mit neuem Sinn, und der Hörer wird immer wieder in bisher nicht dagewesener Weise neu orientiert. Das war ja auch Humboldts Ansicht, die Chomsky zu Unrecht im Sinne einer rein zeichenkombinatorischen, gewissermaßen mechanischen „Kreativität“ als Vorläufer reklamiert hat.



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Kommentare zu »Sind natürliche Sprachen „rekursiv“?«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.09.2023 um 05.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1139#51707

Ich hatte vor fast zehn Jahren mal die "Neurolinguistin" Angela Friedrici zitiert, die bekannteste deutsche Vertreterin einer nicht-existierenden Disziplin:

„Der Linguist Noam Chomsky hat ein Theorem formuliert, welches als das Grundprinzip der syntaktischen Kombinatorik gelten darf. Dieses Theorem Z postuliert, dass zwei sprachliche Elemente X und Y gemäß einer einzigen Operation, genannt ‚merge‘, zu einem neuen sprachlichen Element Z zusammengefügt werden. So entsteht durch das Zusammenfügen des Artikels ‚das‘ und des Nomens ‚Schiff‘ die Nominalphrase ‚das Schiff‘. Auf der nächsten Hierarchieebene kann diese Nominalphrase dann ihrerseits mit einem Verb zusammengefügt werden, um einen Satz zu bilden: ‚Das Schiff sinkt.‘ Diese Operation des Zusammenfügens von Elementen kann somit in wiederholter Weise, immer und immer wieder, rekursiv appliziert werden. Dieses syntaktische Grundprinzip kann im Gehirn scharf eingegrenzt innerhalb des Broca-Areals im linken Stirnlappen nachgewiesen werden.“ (FAZ 21.5.14)

(Friederici drückt, nebenbei bemerkt, die Wiederholbarkeit dreifach aus: „in wiederholter Weise, immer und immer wieder, rekursiv“.)

Das Beispiel ist schlecht gewählt. Weder kann der Artikel wiederholt angewendet werden noch die Prädikation.

Neurologisch ist das Ganze sowieso Unsinn. Der Romanist Wolfgang Raible, von Hirnforschung noch weiter entfernt, hatte (auch unter Berufung auf Friederici und alles mögliche, was gut und teuer war), bereits vorher geschrieben:

„Wie man seit geraumer Zeit weiß, leistet das Broca-Zentrum jedoch die Integration von Einheiten, die auf der Zeitachse nacheinander ankommen, in größere Einheiten, also die Operation des Chomsky’schen MERGE, die oft mit MOVE, also mit Transformationsprozessen, verbunden ist.“ („Zur Realität von Tiefenstrukturen“. In: Angelika Linke/Helmuth Feilke, Hg.: Oberfläche und Performanz. Untersuchungen zur Sprache als dynamischer Gestalt. Tübingen 2009:77-98.)

Raible bemüht auch die seinerzeit beliebten „Spiegelneuronen“ in Makakengehirnen usw. Das Ganze in Verbindung mit Platon, Hochscholastik usw. – es tut weh.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 31.10.2022 um 07.18 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1139#49849

Sehr lange Komposita sind nicht leicht zu finden; bezeichnenderweise werden gern Scherzbildungen angeführt, die meist mit Donaudampfschiffahrt- beginnen. Am ehesten findet man sie in der Amtssprache. Gesetze und deren Novellierung bilden selbst ein gewissermaßen rekursives Verfahren, das sich auch in der Benennung widerspiegelt: Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung, Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz (beides mitsamt der Sache selbst inzwischen aufgehoben). Diese Zusammensetzungen sind allerdings nicht durch wiederholte Linkserweiterung entstanden, sondern bestehen aus bereits gegebenen Determinativkomposita.

In Sanskrit-Texten sind Komposita mit mehr als 400 Gliedern belegt (Sheldon Pollock: The language of the gods in the world of men. Berkeley u. a. 2006:327); es sind Kunstprodukte, die nicht mehr als Wörter, sondern als syntaktische Gebilde verstanden werden, weshalb Speijer sie auch in seiner Syntax behandelt.

Im Lichte dieser Tatsachen ist zu beurteilen, was Jerrold Katz so ausdrückt:

„Wenn wir fälschlicherweise diese Grenzen der Sprachverwendung als Beschränkung der grammatischen Sätze einer Sprache auf eine bestimmte Länge interpretieren, werden wir zu dem absurden Schluß gezwungen, daß bei der Verringerung solcher Beschränkungen (etwa durch den Gebrauch von Papier und Bleistift) eine neue Sprache verwendet wird oder daß die alte einem radikalen Wandel unterworfen wurde.“ (In Helli Halbe (Hg.): Psycholinguistik. Darmstadt 1976:59f.)

Das ist keineswegs absurd, sondern entspricht ganz einfach der Realität: Nur in einer „neuen“, nämlich ganz oder halb künstlichen Sprache, ob auf dem Papier oder nicht, sind solche Gebilde konstruierbar. Um sie zu verstehen, muß man tatsächlich „mit dem Bleistift“ (oder auf eine vergleichbare andere Weise) an ihnen entlanggehen, sie stückweise „rekodieren“ und insgesamt wie einen Text verarbeiten. Damit entfällt dieser Beweis für die Rekursivität natürlicher Sprachen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 22.10.2021 um 09.01 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1139#47391

„We can use language to fantasize, to describe events that have never existed and never will. This remarkable flexibility is achieved at least in part through the human invention of grammar, a recursive set of rules that allows us to generate sentences of any desired complexity. The eminent linguist Noam Chomsky has attributed this to a unique human endowment that he calls universal grammar. All human languages, he suggests, are variants on this fundamental endowment.“ (Michael C. Corballis: The Gestural Origins of Language American Scientist 87(2), 1999:138-145)

Hier wird ganz deutlich das linguistische Simulationswerkzeug in den simulierten Gegenstand verlegt. Außerdem spielt die angenommene Rekursivität und zunehmende Komplexität von Sätzen keine Rolle für die Kreativität des Sprachverhaltens.

Läßt man Kugeln über ein Nagelbrett laufen, so verteilen sie sich in einer Glockenkurve, die man berechnen kann; aber an keiner Stelle des Vorgangs hat so etwas wie eine Berechnung stattgefunden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.12.2020 um 07.40 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1139#44843

Ein Programm zur Erzeugung von deutschen Komposita muß keine Umfangsbegrenzung (kein Stop-Signal) enthalten. Daraus darf man aber nicht schließen, daß deutsche Komposita beliebig lang werden können.
In der klassischen Sanskrit-Dichtung gibt es Komposita von enormer Länge (laut Gokul Madhavan soll eins aus 400 Gliedern belegt sein: https://www.quora.com/What-is-the-maximum-length-a-word-can-have-in-Sanskrit).

Während wir dazu neigen, lange Komposita mit monströsen Gebilden der EU-Bürokratie zu vergleichen, werden sie von der altindischen Poetik als lieblich gerühmt. Man muß allerdings bedenken, daß sie ein syntaktisches Mittel waren und nicht mit unseren komplexen Gegenstandsbenennungen gleichzusetzen sind. Das stellt auch Speijer in seiner „Sanskrit Syntax“ fest und räumt ihnen dementsprechend ein Kapitel ein, während sie sonst natürlich in der Formenlehre behandelt werden.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.06.2020 um 05.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1139#43723

In der Diskussion um "Universalgrammatik" und besonders "Rekursivität" spielt noch immer ein Aufsatz von Hauser/Chomsky/Fitch eine gewisse Rolle. Derek Bickerton und andere haben sich ausführlich damit beschäftigt, bevor herauskam, daß Marc Hauser Daten gefälscht hatte, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Marc_Hauser. Das ändert wohl nichts Wesentliches, gibt aber doch zu denken. In der Diskussion gibt es auch eine Unmenge "Daten", die zwar nicht gefälscht sind, aber mit wirklicher Sprache nichts zu tun haben. Seit Chomsky gelten auch die Erfindungen von Linguisten als "Daten", weil sie ja seiner heiligen "Kompetenz" entspringen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 08.06.2020 um 05.30 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1139#43708

Als Kinder freuten wir uns an der längsten Geschichte der Welt: "Es war einmal ein Mann, der hatte sieben Söhne. Die sieben Söhne sprachen: Vater, erzähl uns eine Geschichte! Da fing der Vater an: Es war einmal ein Mann, der hatte sieben Söhne"...

Eine etwas lieblos gesprochene Kurzfassung findet man auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=5Lrlsttpb90

Mehr ist zu Chomsky nicht zu sagen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.04.2019 um 04.29 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1139#41293

Zur fixen Idee von der Rekursivität als Kern der menschlichen Sprachfähigkeit:

„...language in the narrow sense, that is, the property of recursion...“ (Alan Barnard: Language in prehistory. Cambridge 2016:35)

Der Nichtlinguist Barnard hat sich von Chomsky („the world’s leading linguist“, ebd. S. 10) etwas einreden lassen. Der Begriff kommt dann im ganzen Buch nicht mehr vor.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.10.2018 um 18.58 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1139#39855

Der Zusammenhang deutet eher darauf hin, daß eine wohlbekannte Formulierung aus der uferlosen Literatur zum Thema etwas nachlässig übernommen worden ist.

Die Verfasserin spricht auch von einem weltbekannten Pferd namens "Clever Hans" und gibt das Buch von Oskar Pfungst in der englischen Übersetzung an. Wenn das der Kluge Hans erlebt hätte, hätte er bestimmt hundertmal mit dem Huf gestampft.

Ich werde auf das Buch noch einmal zurückkommen.
 
 

Kommentar von Manfred Riemer, verfaßt am 18.10.2018 um 18.50 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1139#39854

Sowohl "was ich weiß" als auch "usw." wären sinnvoll, wenn folgende Reihe gemeint ist:

Ich weiß, was du weißt.
Ich weiß, daß du weißt, was ich weiß.
Ich weiß, daß du weißt, daß ich weiß, was du weißt.
usw.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.10.2018 um 17.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1139#39850

„Ein erwachsener Mensch versteht den Sinn von: Ich weiß, dass Du weißt, was ich weiß, usw.“ (Friederike Range: Wie denken Tiere? Wien 2009:130)

(Es sollte wohl heißen „dass ich weiß“, denn sonst ist die Fortsetzung nicht möglich oder nicht sinnvoll.)

Man sieht, wie die Rekursivität in die These hineinkonstruiert wird. Wirklich beobachtbar ist sie nicht. Man braucht ja bloß einmal zu versuchen, etwa eine fünfmalige Einschachtelung nachzuvollziehen.

Rekursivität gehört in Mathematik und Logik; in der Psychologie und Verhaltensforschung hat sie keinen Anwendungsfall.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 05.10.2018 um 05.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1139#39742

Ein Mechanismus, der rekursives Verhalten steuert, muß nicht selbst rekursiv sein.

Ein Kuchen hat Eigenschaften, die nicht im Kuchenrezept enthalten sind. (S. Blaupause vs. Rezept)

In der Biene ist die Sechszahl nicht "repräsentiert".

Das alles ist anscheinend schwer zu begreifen, sonst würde nicht immer wieder derselbe Fehler begangen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.09.2018 um 06.07 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1139#39471

Nach der generativen Linguistik ist die Rekursivität (Selbsteinbettung) der Grund der „Kreativität“ der Sprache und hat zur Folge, daß Sätze unendlich lang werden können. In Wirklichkeit sind sie im Deutschen durchschnittlich zehn Wörter lang, und wenn ein Schriftsteller mal einen Satz von mehreren Seiten Länge konstruiert, verstehen wir das als literarisches Kunstmittel und wissen von vornherein, daß ein natürliches Verstehen solcher Dimensionen nicht möglich ist. Der Unterschied zwischen zehn und unendlich ist nicht eben gering, er ist unendlich groß. Aber das schreiben Chomsky und seine Anhänger den Zufälligkeiten der „Performanz“ zu und finden es „nicht interessant“.
Es gibt keinen längsten Regenwurm, weil immer noch einer auftauchen könnte, der einen Millimeter länger ist. So auch beim ältesten Menschen, woraus folgt, daß Menschen unendlich alt werden können.
Fische und andere Kaltblüter wachsen immer weiter, von Heimito von Doderer schön beschrieben in seiner „Wiederkehr der Drachen“ (http://www.doderer-gesellschaft.org/pdf/Die_Wiederkehr_der_Drachen.pdf).

Von unendlich großen Lachsen könnten viele satt werden. In Wirklichkeit nähert sich das Wachstum der Fische nach der Bertalanffy-Kurve asymptotisch einem Grenzwert.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.01.2018 um 05.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1139#37644

Wer vormachen kann, kann auch das Vormachen noch vormachen. Wenn das Vormachen (modeling) nicht angeboren und damit starr ist, kann es jederzeit auch „rekursiv“ eingesetzt werden.
Man kann Verstellung (Vormachen) nicht nur zum Lehren der Sprache, sondern auch zum Reden darüber, metasprachlich, zitierend verwenden. Ein Schauspiellehrer macht vor, wie man vormacht. Der Ausbilder von Schauspiellehrern macht vor, wie man vormacht, wie man vormacht. Das ist dann alles kein großes Geheimnis mehr.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.12.2017 um 07.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1139#37344

Man kann sich den exakten Nachweis ebenso wie die Widerlegung sparen: Wenn natürliche Sprachen rekursiv sein sollten, spielt es jedenfalls keine Rolle. Die Möglichkeit, Neues auszudrücken, beruht niemals auf Rekursivität. Daß so etwas fast überall behauptet wird, gehört zu den unbegreiflichen Zügen heutiger Linguistik, die eben weitgehend eine Kopfgeburt ohne Erfahrungsgrundlage ist („theoretische Linguistik“). Sie untersucht die formalen Eigenschaften erfundener „Sprachen“ (Kalküle).
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 15.08.2016 um 08.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1139#33097

Auch Richard Dawkins, der in sprachlichen Dingen auf Pinker baut, hat sich zu folgender Darstellung verführen lassen:

Human language is open-ended in its semantics: phonemes can be recombined to concoct an indefinitely expanding dictionary of words. And it is openended in its syntax, too: words can be recombined in an indefinitely large number of sentences by recursive embedment: 'The man is coming. The man who caught the leopard is coming. The man who caught the leopard which killed the goats is coming. The man who caught the leopard which killed the goats who give us our milk is coming.' Notice how the sentence grows in the middle while the ends - its fundamentals - stay the same. Each of the embedded subordinate clauses is capable of growing in the same way, and there is no limit to the permissible growth. This kind of potentially infinite enlargement, which is suddenly made possible by a single syntactic innovation, seems to be unique to human language.
(Unweaving the rainbow, auch im Netz)

Es müßte doch auffallen, daß solche Erweiterungen im Sprachleben praktisch keine Rolle spielen. Auch werden ja, wie gesagt, die Sätze nicht immer länger, wie es nach der Rekursivitätsthese zu erwarten wäre.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 21.03.2016 um 16.19 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1139#32017

Sprachwissenschaftler, die von "den Sätzen des Deutschen" sprechen (Heringer, Eisenberg, Gallmann – um nur einige wenige Germanisten zu nennen), bekunden damit ihre Zugehörigkeit zur generativistischen Schule. Man spricht normalerweise von "deutschen Sätzen", aber für diese Schule ist eine Sprache eben eine Menge von Sätzen, die im mathematischen Sinne "aufgezählt" werden durch "Erzeugungsformeln". Solche Formeln zu finden ist das Ziel der generativen Grammatik. Da die Formeln nach allen mir bekannten Modellen rekursiv sind, ist die Menge der Sätze des Deutschen unendlich.
Manche haben auch versucht, die Texte des Deutschen auf diese Weise zu generieren.
Gallmann bezeichnet die Art Grammatik, die er selbst treibt, als "die" wissenschaftliche Grammatik; auch diese Selbsteinschätzung stammt von Chomsky selbst.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.04.2009 um 11.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1139#14320

Lösen sollte die Rekursivität die Frage, wie man "unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln" machen kann. So die Humboldtsche Formulierung, die Chomsky allerdings mißverstand (wie u. a. Jürgen Trabant gezeigt hat). Würden die Zeichenketten durch Rekursivität immer länger, ließe sich durchaus Neues formulieren (wie man mit den zehn Ziffern immer größere Zahlen abbilden kann), aber die Sprachen verfahren nicht so. Schon dieser Irrtum hat unendliche Mengen von Zeit und Kraft in die falsche Richtung gelenkt.
 
 

Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 17.04.2009 um 18.51 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1139#14318

Man fragt sich, welches Problem der Rekurs auf den Begriff der Rekursivität eigentlich lösen soll. Vielleicht dieses: Wenn Neues nur aus der Umgruppierung von bereits Bekanntem entstehen, d.h. gerade: nicht entstehen kann, muß es einen Grund dafür geben, daß es trotzdem immer wieder überrascht. Der findet sich dann in dem Umfang von Borges' "Bibliothek von Babel" – es hatte halt schlicht bis zum jeweiligen Zeitpunkt der Äußerung noch niemand in dem betreffenden Winkel herumgestöbert. Dabei scheitert das Konzept eines unendlichen Zeichenkombinatoriums nicht einmal so sehr an dessen Uneinholbarkeit, sondern an seiner Unmöglichkeit. Wenigstens der Bibliothekar von Babel muß Zeichenkombinationen als solche identifizieren sowie zwischen sinnlosen und sinnvollen Kombinationen unterscheiden können.
 
 

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