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01.01.2008
Wiedergefunden
Zwei Zitate aus der Zeitungskiste
„Der 'Duden' regiert über die deutsche Rechtschreibung so unumschränkt wie sonst nur kirchliche Autoritäten in Glaubenssachen: Daran sollten die Kultusminister etwas ändern.“
Wer hat das wohl geschrieben? Kein anderer als Kurt Reumann in der FAZ 4.5.87 (Leitartikel). Hätte man damals auf ihn gehört, wäre es nicht zur Rechtschreibreform gekommen.
Das folgende scheint mir ein weiteres Licht auf einen interessanten Zusammenhang zu werfen:
„Die DDR-Sprachwissenschaft will die deutsche Rechtschreibung vereinfachen und dabei die generelle Großschreibung der Hauptwörter abschaffen. Die jüngsten Vorschläge des Ostberliner Zentralinstituts für Sprachwissenschaft sehen vor, ähnlich wie in anderen Sprachen, nur noch die Satzanfänge, Eigennamen sowie bestimmte Anredepronomen und Abkürzungen groß zu schreiben. Dies erläuterte der Sprachwissenschaftler Dieter Herberg, der sich in dem Institut mit theoretischen Problemen der Orthographie beschäftigt. Er sagte, in anderen deutschsprachigen Ländern sei das Interesse an diesen Fragen ebenfalls groß. 'Ich darf aber wohl sagen, daß im Augenblick die sprachwissenschaftlichen Forschungen auf diesem Gebiet in der DDR am weitesten gediehen sind.'“ (...) (Süddeutsche Zeitung 23.7.1982)
Herberg, der übrigens nie SED-Mitglied war, bezieht sich natürlich vor allem auf Nerius und seine Gruppe.
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Kommentar von Christoph Schatte, verfaßt am 10.01.2008 um 18.14 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=943#11107
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In der seinertzeit immer gut vernetzten "Süddeutschen Zeitung" stand am 23.7.1982 zu lesen:
"Die DDR-Sprachwissenschaft will die deutsche Rechtschreibung vereinfachen und dabei die generelle Großschreibung der Hauptwörter abschaffen."
Geendet hat es dann ja bekanntlich ganz anders, aber:
Schon seinerzeit hätte sich ein Kult(ur)- oder gar Wissenschaftsredakteur in dieses demokratisch geschüttelten Blattes fragen dürfen, ob denn eine "Wissenschaft", sogar eine der allmächtigen DDR, z.B. ab nächstem Faschingsdienstag oder 1. April "die deutsche Rechstschreibung vereinfachen" kann (und sollte).
Dieses reflexionslose Geplapper zeigte bereits damals die abgrundtiefe Affinitiät dieses Blattes zur Demokratie bzw. zu dem, was es für solche hält. An diesem Geist hat sich nichts geändert.
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Kommentar von Germanist, verfaßt am 04.01.2008 um 21.23 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=943#11081
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Gefunden in heise.de: "Ein allgemeiner Konsens ist nicht gleichbedeutende mit einem Beweis. Kurz: Ein Konsens ist kein Beweis." Ob das auch für die Rechtschreibreform gilt?
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 03.01.2008 um 16.27 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=943#11080
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Hier noch ein Zufallsfund, betreffend meine "gut begründete Voreingenommenheit" (muß ich mir merken!). Der "Umblätterer" (umblaetterer.de) notiert die zehn besten Feuilletonartikel des Jahres 2006, darunter als Nr. 3 meine Doppelrezension:
"3. Theodor Ickler
Die Vernunft kehrt nur in Trippelschritten zurück. / Noch nicht einmal der Duden hält sich an den Duden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. bzw. 21. 7. 2006.
So leidenschaftlich wie einst Cicero gegen Catilina kämpft der in Erlangen lehrende Linguist Theodor Ickler gegen die politisch forcierte Rechtschreibreform. Er hat vor Jahren das neue Genre der Rechtschreibreformverrisse mit begründet und führt es hier in Gestalt zweier Rezensionen der neuen Wörterbücher von Wahrig und Duden fort. Was in philologischen Rezensionsorganen das Aufstellen unverdaulicher Errata-Listen ist, wird bei Ickler zu einem Virtuosenstück. Niemand baut aus hunderten orthografischen Beispielen einen so gut lesbaren Text. Icklers unbedingte Voreingenommenheit gegen sämtliche Erscheinungen der Reform stößt allenthalben auf, aber er kann seine ganze Abscheu gegen diese »peinlichste Episode der deutschen Sprachgeschichte« nun mal gut begründen. Die neueste Errungenschaft der Reformer, nämlich das Zulassen von Schreibvarianten, im Speziellen das Empfehlungsgelb, mit dem der Duden die zu bevorzugende Variante unterlegt, läute laut Ickler das »Ende der deutschen Einheitsorthographie« ein. Trotz dieser apokalyptischen Momente werden Icklers Polemiken hoffentlich weiter in der »FAZ« erscheinen, die nun seit einigen Tagen selbst die reformierten Regeln benutzt."
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Kommentar von David Konietzko, verfaßt am 02.01.2008 um 23.19 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=943#11078
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Am 15.1.2001 schrieb Theodor Ickler im Gästebuch der Seite www.rechtschreibung.com:
„Eine extern gesetzt“ [sic] „Norm, wie so oft im Duden, hat große Nachteile, weil unsere Kenntnis nicht ausreicht, um zu sehen, ob sie wirklich der Sprachentwicklung und Intuition entspricht. Andernfalls muß sie mit großem Aufwand und zweifelhaftem Erfolg gelernt werden. Beispiel: ‚sitzenbleiben‘ vs. ‚sitzen bleiben‘. Daß ausgerechnet hier der übertragene Gebrauch anders geschrieben werden soll, ist eine sachfremde Ad-hoc-Regel, extern gesetzte, nicht aus dem Gebrauch abgleitete Norm. Niemand kennt sie oder hält sich daran, wenn er nicht das ‚Glück‘ hatte, von einem Schulmeister darauf gestoßen zu werden. Und wie steht es mit anderen übertragenen Gebrauchsweisen? Das Mauerblümchen, das sitzen bleibt, der Metzger, der auf seinem Rindfleisch sitzen bleibt? Übrigens gehört ‚sitzenbleiben‘ zu den Verben, die ich schon ganz früh untersucht habe. Hier ein Auszug aus meinem Protokoll: FAZ 1996: ‚sitzenbleiben‘ (nur Infinitiv) - 6mal übertragen, 8mal wörtlich; ‚sitzen bleiben‘ 5mal übertragen, 4mal wörtlich; Süddeutsche Zeitung 1998 ungefähr gleich oft übertragen und wörtlich. Weitere Nachprüfungen würden den Befund verbreitern, aber nicht ändern. Offenabr“ [sic] „legen die Schreiber und Leser keinen Wert auf solche haarspalterischen Unterscheidungen, da der Kontext keine Zweifel läßt.“
Herr Ickler und die Rechtschreibreformer stellen also bezüglich der bedeutungsunterscheidenden GZS von Verbzusatzkonstruktionen, wie sie vor der Reform im Duden vorgeschrieben war, im wesentlichen die gleiche Diagnose, greifen aber zu völlig verschiedenen Therapien: Während Theodor Ickler die Getrennt- und Zusammenschreibung meistens für jede Bedeutung freigibt und damit der Sprachwirklichkeit vor der Reform gerecht wird, schrieben die Reformer meist Getrenntschreibung vor (ebenfalls unabhängig von der Bedeutung) und entwickelten damit eine extern gesetzte Norm, die noch wirklichkeitsfremder war als die im nichtreformierten Duden.
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Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 02.01.2008 um 21.27 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=943#11077
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Nein, 1996 wurde nicht das 94er Regelwerk eingeführt, sondern ein leicht modifiziertes: Herr Zehetmair (damals verantwortlicher Minister in Bayern) hatte quasi in letzter Minute noch eine Handvoll Änderungen verlangt: »Nach einem SPIEGEL-Gespräch mit dem bayerischen Kultusminister Zehetmair wurde die Reform ein erstes Mal durcheinander gebracht. Ohne jede Systematik wurden 45 Wörter als sakrosankt erklärt. Darunter "Heiliger Vater", "Letzte Ölung". Und "Paket" (statt "Packet").« (Aus: "Im Land der Wörtermörder", Spiegel 30/2005, www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=309) Das brachte den Dudenverlag in große Schwierigkeiten: Nur die Bertelsmann-Rechtschreibung lag am Stichtag auf den Ladentischen, Duden mußte neu drucken (mehr dazu z.B. in Th. Icklers Vortrag "Wem gehört die deutsche Sprache?", www.sprachforschung.org/index.php?show=aufsaetze&id=34; als gut formatierte PDF-Datei gibt es diesen Text hier: www.korrekturen.de/docs/wemgehoert.pdf).
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Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 02.01.2008 um 19.58 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=943#11076
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Der 1. Juli 1996 ist also das Datum, zu dem der bis heute andauernde Teufelskreis mit der Staatsraison begann. Die damaligen Unterzeichner haben offenbar ungeprüft das 1994er Regelwerk zur Einführung freigegeben und damit das ganze Schlamassel initiiert. Ihnen fällt die Hauptverantwortung zu, für alles was folgte.
Vielen Dank für die Quellenangaben. Interessant wären noch Quellen für das 94er Regelwerk, oder ist es mit dem 96er identisch?
Bemerkenswert erscheint mir ein Kommentar der schweizerischen EDK (vermutlich vom Mai 1996):
"Die Getrennt- und Zusammenschreibung war bisher sehr uneinheitlich geregelt. Dabei lag eine besondere Schwierigkeit darin, dass man nicht selten versucht hat, die unterschiedliche Bedeutung von Verbindungen durch unterschiedliche Schreibung auszudrücken. So musste man zum Beispiel bisher «wörtlichen» und «übertragenen» Gebrauch auseinander halten in Fällen wie: Die Leute sind einfach sitzen geblieben (= sind nicht aufgestanden). Paul ist sitzengeblieben (= in der Schule nicht versetzt worden). Auf derartige Unterscheidungen soll in Zukunft grundsätzlich verzichtet werden."
Die Autoren tun so, als wären Unterscheidungsschreibungen von irgend jemandem dem Volk gegen den Willen aufgezwungen worden, und von diesem Joch soll es jetzt befreit werden.
Daß sich Unterscheidungsschreibung – als typisches Merkmal deutscher Schreibung – von selbst bildete und enorm das Leseverständnis unterstützt, konnten sich die Erfinder in ihrer Selbstherrlichkeit wohl nicht vorstellen.
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Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 02.01.2008 um 15.33 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=943#11075
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Auf den archivierten Seiten der Zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission (web.archive.org/web/20040812104234/rechtschreibung.ids-mannheim.de/index.html) findet man die Wiener Erklärung unter "Wichtige amtliche Dokumente zur Neuregelung" (neben weiteren historisch relevanten Texten zur Reform). Leider ist das Web-Archiv nicht vollständig.
Zum Nachlesen empfehle ich in diesem Zusammenhang die Tagebucheinträge (nebst Kommentaren) "Geschlossene Abteilung" vom 29. 7. 2005 (www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=198) und "Neblige Aussicht" vom 21. 2. 2006 (www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=429), außerdem das Forumsthema "Zur Historie der Reform" (www.sprachforschung.org/forum/show_comments.php?topic_id=68).
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 02.01.2008 um 06.52 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=943#11074
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Hier ist der Wortlaut, so ist es wohl am einfachsten:
ARTIKEL I
Die Unterzeichner nehmen das auf der Grundlage der Dritten Wiener Gespräche vom 22. bis 24. November 1994 entstandene und als Anhang beigefügte Regelwerk „Deutsche Rechtschreibung, Regeln und Wörterverzeichnis“ zustimmend zur Kenntnis.
ARTIKEL II
Die Unterzeichner beabsichtigen, sich innerhalb ihres Wirkungsbereiches für die Umsetzung des in Artikel I genannten Regelwerkes einzusetzen.
Folgender Zeitplan wird in Aussicht genommen:
1. Die Neuregelung der Rechtschreibung soll am 1. August 1998 wirksam werden.
2. Für ihre Umsetzung ist eine Übergangszeit bis zum 31. Juli 2005 vorgesehen.
ARTIKEL III
Die zuständigen staatlichen Stellen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz werden Experten in eine Kommission für die deutsche Rechtschreibung entsenden, deren Geschäftsstelle beim Institut für deutsche Sprache in Mannheim eingerichtet wird.
Die Kommission wirkt auf die Wahrung einer einheitlichen Rechtschreibung im deutschen Sprachraum hin. Sie begleitet die Einführung der Neuregelung und beobachtet die künftige Sprachentwicklung. Soweit erforderlich erarbeitet sie Vorschläge zur Anpassung des Regelwerks.
ARTIKEL IV
Zuständigen Stellen anderer Staaten steht es frei, dieser „Gemeinsamen Absichtserklärung“ beizutreten. Das Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten der Republik Österreich wird sodann die anderen Unterzeichner von diesen Beitritten in Kenntnis setzen.
Wien, am. 1. Juli 1996
(Unterzeichner weggelassen)
Meines Wissens ist nie ausdrücklich erklärt worden, welche Auswirkungen die Revision von 2006 auf den ursprünglichen Text hat. Es fehlen auch Dokumente zur gegenseitigen Abstimmung der Regierungen in den drei hauptsächlich betroffenen Staaten. Manchmal scheint ein Telefonanruf genügt zu haben. Die Schweiz war gelegentlich pikiert, weil sie sich durch Nacht-und-Nebel-Aktionen der Deutschen überfahren fühlte.
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Kommentar von Marconi Emz, verfaßt am 01.01.2008 um 20.21 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=943#11073
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Hier zwei Links, die zum vollständigen Text der "Gemeinsamen Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung" (so der volle Titel der "Wiener Absichtserklärung") führen:
http://members.aol.com/gy95c/fritzer/page2.htm"
http://www.edk.ch/PDF_Downloads/Dossiers/D42.pdf (die "Absichtserklärung" ist hier ein Anhang zum Text "Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung" (2. überarb. und erw. Auflage, herausgegeben von der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, Bern 1999)
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Kommentar von stefan strasser, verfaßt am 01.01.2008 um 17.37 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=943#11071
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Weil hier wieder einmal von historischen Aussagen die Rede ist, mich würde in diesem Zusammenhang der vollständige Wortlaut inkl. aller Anhänge der sogenannten Wiener Absichtserklärung interessieren.
Gibt es dazu ein Dokument im Internet?
Ich fand dazu bis jetzt nur Auszüge und Verweise.
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