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20.04.2006
Die demokratische Rechtschreibreform
Noch eine Erinnerung
Wie unausweichlich die Rechtschreibreform ist und wie undemokratisch es wäre, sich dagegen zu wehren, haben Augst und Schaeder in der Süddeutschen Zeitung vom 14.12.96 erklärt:
„Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung ist ein Kompromiß aus Wünschbarem und Machbarem, öffentlich vor denen ausgehandelt, die gewillt waren, das Geschehen zu verfolgen und sich rechtzeitig einzumischen. Manche hatten sich 'radikalere' Änderungen gewünscht, so Walter Kempowski die Kleinschreibung der Substantive. Doch in einem demokratischen Verfahren, wie es bei der Neuregelung praktiziert wurde, kann es nicht nach der Devise gehen: 'Reform, ja bitte. Aber gefälligst meine eigene!'
Also: Die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung ist eine national und international beschlossene Sache. Daß auch die Schweiz und Österreich an der Beschlußfassung beteiligt waren und alle beteiligten Staaten die Reform längst eingeleitet haben, scheint diejenigen, die jetzt gegen sie protestieren, nicht sonderlich zu kümmern. Rechtschreibung hat sich im Laufe der Zeit immer wieder geändert und wird sich auch weiterhin ändern. Unsere Rechtschreibung ist nicht mehr die Luthers, Goethes oder Hölderlins. Während diejenigen, die mit der herkömmlichen Rechtschreibung vertraut sind, in sehr begrenztem Maße umlernen müssen, werden sich spätere Generationen höchstens noch darüber wundern, daß man früher ein wenig anders schrieb.“
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Kommentar von Klaus Malorny, verfaßt am 20.04.2006 um 22.46 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=490#3892
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Da kann man nur den Kopf schütteln. Einerseits, weil es so demokratisch war wie die DDR, andererseits, weil die Presse wieder gleichgeschaltet ist und die Obrigkeit jeden erdenklichen Mist wieder ungestraft verbreiten kann.
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Kommentar von Süddeutsche Zeitung, 2.9.2006, Seite 13, verfaßt am 02.09.2006 um 16.39 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=490#5426
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Und in zwei Wochen ist alles vorbei
Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko hält nicht viel von seiner Landessprache und fordert eine Rechtschreibreform - sofort
Der Rat für deutsche Rechtschreibung, der sich seit vielen Jahren in sehr vielen leidenschaftlichen Sätzen um eine Vereinfachung der deutschen Orthografie bemüht, müsste in diesen Tagen neidisch gen Osten schauen. Dort, in Weißrussland, regiert Aleksander Lukaschenko. Ein Mann mit Schnauzbart, der weiß, was er will und wie er es bekommt. Der autokratische Präsident ist Spezialist für Projekte phantastischen Ausmaßes, die er mit harter Hand und schlagender Klarheit durchsetzt. Auch das zeichnet ihn unter anderem als Freund sowjetischer Politik aus.
Nun will er für das Weißrussische eine Vereinfachung, sprich eine Rechtschreibreform. In dem Land zwischen Polen und Russland haben die Worte des Präsidenten Gewicht, sehr viel Gewicht. Der Präsident hat also seinen Bildungsminister Aleksander Radkow angerufen und ihm gesagt, er wolle diese Reform und zwar recht schnell. Was bedeutet: in zwei Wochen. Dann müsse die Sache erledigt sein. Die Eile der Reform überrascht nicht. Denn vom Weißrussischen hält Lukaschenko nicht viel.
So hat er 1994, da war er gerade zum Präsidenten gewählt worden, folgende denkwürdige Sätze gesagt: "Menschen, die Weißrussisch sprechen, sind nicht in der Lage, etwas aus ihrem Leben zu machen, außer sich auf Weißrussisch zu unterhalten. Denn auf Weißrussisch lässt sich nichts Großartiges formulieren. Weißrussisch - das ist eine arme Sprache. In der Welt gibt es nur zwei große Sprachen - Russisch und Englisch." Mit anderen Worten: Für eine derart ärmliche Sprache braucht es nicht sehr viel Zeit, um ihrer altmodischen und provinziellen Kratzbürstigkeit Herr zu werden.
Glaubt man den Worten des Präsidenten, darf man es ihm also nicht verübeln, wenn er kein Weißrussisch spricht (was er tatsächlich nicht kann). Die Sprache, so die Schlussfolgerung, ist eines Präsidenten eben nicht würdig. So ist die Präsidentenseite im Internet in Russisch und Englisch verfasst.
Zu seinem Volk spricht der Mann aus dem Kaff Schklow nur auf Russisch, auch wenn es zugegebenermaßen ein recht schlechtes Russisch ist. Wenn Lukaschenko im Fernsehen verbale gelbe Karten an seine Regierungsmitglieder verteilt, dann oft in weißrussischen Phrasen - um der verbalen Demütigung eine besonders schöne Note zu verleihen. Denn das Weißrussische gilt vielen bis heute als Bauerndialekt, der vornehmlich in der weißrussischen Provinz gesprochen wird - vor allem in der russisch-weißrussischen Mischsprache Trasjanka, was so viel bedeutet wie "Viehfutter". Außerdem ist das Weißrussische vornehmlich die Sprache der Opposition und deshalb ein zentrales Politikum im Land. Zwar sind sowohl das Russische als auch das Weißrussische de iure Staatssprachen, de facto versucht die Staatsmacht seit Jahren, dem Weißrussischen seine Basis zu entziehen. In Minsk gibt es nur noch vier Gymnasien, die in Weißrussisch unterrichten. Zudem sind viele weißrussischsprachige Musiker mit einem Auftrittsverbot belegt. Wer demonstrativ Weißrussisch spricht, gilt automatisch als Lukaschenko-Gegner.
Die Opposition wertet den Vorstoß des Präsidenten deswegen als Versuch, das Weißrussische dem Russischen anzunähern und damit der Opposition zu entreißen. Dabei ist sich auch diese einig, dass eine Reform dringend notwendig wäre. Denn gerade in den vergangenen 15 Jahren hat sich das Weißrussische vehement entwickelt. Die bisher letzte Reform des Weißrussischen aus dem Jahre 1957, also aus der Zeit der Sowjetunion, lehnt die Opposition bis heute als verfehlt ab und benutzt deswegen die Regeln des vorrevolutionären Weißrussischen. Die wiederum verleihen vielen oppositionellen Publikationen einen altbackenen, nahezu nostalgischen Anstrich, den man in Weißrussland als Bild für die Weltfremdheit der Opposition versteht.
Ein Redakteur der ältesten weißrussischsprachigen Zeitung Nasha Niva (Unsere Flur) kommentierte die Reformbestrebungen des Präsidenten indes so: "Es ist genau wie unter Stalin. Menschen, die keine Ahnung vom Weißrussischen haben, stellen Regeln dafür auf." Eine der ersten Neuerungen, die jetzt bekannt wurden, betreffen im Übrigen das Wort Präsident. Es soll künftig groß geschrieben werden. INGO PETZ
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.10.2010 um 17.21 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=490#16932
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Augst und Schaeder schrieben:
„Während diejenigen, die mit der herkömmlichen Rechtschreibung vertraut sind, in sehr begrenztem Maße umlernen müssen, werden sich spätere Generationen höchstens noch darüber wundern, daß man früher ein wenig anders schrieb.“
Das ist natürlich unlogisch. Die beiden Reformer wollen einerseits die Geringfügigkeit der Änderungen hervorheben, aber dann können sie nicht gleichzeitig damit rechnen, daß sich spätere Generationen darüber wundern, wie zuvor geschrieben wurde. Und es wundert sich auch heute schon kein Mensch darüber, wie vor der Reform geschrieben wurde, während sich nicht wenige Menschen darüber wundern, wie nach der Reform geschrieben wird.
Aber eins wollte ich noch einmal in Erinnerung rufen, weil ich den Vergleich mit "Stuttgart 21" selbst gezogen habe und nun doch wieder klarstellen muß, daß der Vergleich sich wirklich nur auf einen kleinen Teil der Argumentation bezog. Die Rechtschreibreform ist ebenfalls durch demokratisch einwandfrei legitimierte Instanzen und Verfahren beschlossen worden. Aber sie ist trotzdem unzulässig, weil entgegen dem nachweislich von falschen Annahmen ausgehenden Karlsruher Urteil ein solcher Eingriff in die Sprache nicht zulässig ist.
Ich erinnere noch einmal daran, daß außer dem knappen Dutzend beharrlicher Reformeiferer (Augst, Mentrup, Nerius – das war die Kerntruppe) fast niemand eine Reform oder gar DIESE Reform wollte. Wie denn auch Franz Niehl über die Ministerpräsidenten lachend sagte: "Keiner wollte die Reform, aber unterschrieben haben sie doch!"
Und das ist das Hochinteressante und Lehrreiche an der Geschichte: Wie etwas durchgesetzt wird, ohne daß auch nur die Durchsetzer es wollen. Das sollte einmal gründlich erforscht werden.
Zabel nannte es einmal "sich den Auftrag holen". Entscheidend und wohlgeplant war der Trick, die Ministerialbeamten zu beschwatzen. Die haben dann ihren wechselnden Dienstherren klargemacht, daß es kein Zurück mehr geben könne ohne Gesichtsverlust. Ich habe oft und gern gegen Ministerialbeamte wie Stefan Krimm polemisiert. Aber ich habe keinen Augenblick bezweifelt, daß er hochintelligent und gebildet ist und sich über die schlechte Qualität der Reform keine Illusionen gemacht hat. Das war schon 1993 klar genug. Unklar ist nur, wie die Ministerien dazu gebracht werden konnten, die offensichtlich unausgegorene Reform 1994 anzunehmen. Wollten sie endlich ihre Ruhe haben? Sind sie falschen Darstellungen der Lage an den Schulen auf den Leim gegangen? Waren sie erleichtert, weil die gröbsten Fehler der vorigen Entwürfe vom Tisch waren?
Sie hätten anders reagieren müssen. Schon der dreiste Verstoß der Reformer gegen den Auftrag, die GKS nicht anzufassen, hätte sie warnen müssen. Jedenfalls ist 1993 bis 1994 etwas Entscheidendes geschehen, der Rest war Gruppendynamik. Die bayerische Regierung bzw. Regierungspartei ist ja dafür bekannt, daß sie niemals etwas zurücknimmt. Lieber läßt sie sich von einem Volksentscheid dazu zwingen, als daß sie einen Fehler eingesteht. Anderswo wird es nicht viel anders sein.
Die Revisionen seither, deren kleinlaute, ja verschwiegene Hinnahme, die Versuche, weitere Revisionsschritte zu behindern und zu verhindern – das gehört zum Kläglichsten, was die Politik hierzulande bisher zu bieten hatte. Zehetmair verkörperte es sichtbar auf den Pressekonferenzen.
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Kommentar von Urs Bärlein, verfaßt am 18.10.2010 um 15.56 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=490#16933
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Staatsraison, Regierbarkeit, Reformfähigkeit, das sind letztlich nur wechselnde Namen, unter denen der Anspruch auf Unumkehrbarkeit staatlichen Handelns vorgebracht wird. Letztlich handelt es sich um einen Typ von Herrschaft, bei dem die Repräsentation mit dem Vollzug zusammenfällt. Entsprechend läuft die Rücknahme eines Projekts immer auf eine Legitimitätseinbuße hinaus und ist nach Möglichkeit zu vermeiden. Bei unsinnigen Vorhaben bleibt auf diese Weise natürlich die Vernunft auf der Strecke. In dieser Hinsicht ist die Monarchie eine wesentlich rationalere Herrschaftsform. Ein König kann herrschen, ohne dauernd regiereren zu müssen; er muß nicht jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf treiben, sondern kann die Leute auch einmal in Ruhe lassen. Meistens fahren beide Seiten damit besser. Im günstigsten Fall ist es mit einer Militärparade jährlich zum Geburtstag getan; um den Rest kümmern sich Minister, die in Ungnade fallen, wenn sie Unfug treiben. Der Staat bleibt davon unberührt.
Was die Rechtschreibung besonders dazu prädestiniert, an ihr ein Exempel der Staatsraison zu statuieren, ist der symbolische Rang der Reform als Vollzug von Souveränität, vergleichbar mit dem Münzrecht. Obwohl es sicherlich sinnvoll ist, Edelmetallstücke für den Handel zu normieren, kommt es politisch nicht auf den Inhalt der Norm an, sondern auf die Anerkennung ihrer Geltung, und zwar als Anerkennung der Geltung des Herrschaftsanspruchs dessen, der sie gesetzt hat. Das wird in dem Augenblick sichtbar, in dem ein neuer Herrscher antritt, der seine Legitimität nicht auf Kontinuität, sondern auf den Bruch mit ihr gründen will. Dann werden die Münzen, die den Kopf des alten Herrschers zeigen, eingezogen und neue geprägt.
Insofern im Fall der Rechtschreibreform nicht einfach nur ein Projekt, sondern zugleich eine Norm durchgesetzt werden sollte, sind die Chancen für eine Rücknahme von "Stuttgart 21" sogar deutlich besser. Für das Beharren auf der Reform spricht nicht nur die Legitimität des fait accompli, sondern auch die klassische Legitimation des Souveräns als Erzwinger und Garant von Normen. Man könnte hinzufügen: und sonst nichts. Ich bin überzeugt, wäre die Reform nur ein klein bißchen vernünftig und nicht ganz so unnütz, wären wir sie schon längst wieder los. So aber hatte eine Diskussion zur Sache von vornherein keine Chance.
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