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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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06.03.2006
 

Bildung aus einem Guß
– an der Sprache vorbei?

„Ins-titute“ und „aufwändig“ liest man in einer Broschüre des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.
Sie liegt der heutigen Tageszeitung bei. So ist das heute in Deutschland.

Forschung, Wissenschaft und Technik werden gefördert und gefordert, aber auf sprachlichem Gebiet ist der Ungebildete zum Maßstab erhoben worden. Bildung beginnt mit der Muttersprache. Grammatik und Orthographie sind immer die Grundlage gewesen, Sprachbewußtsein oder die Fähigkeit, über Sprache sachgerecht mitreden zu können. Bildung aus einem Guß kann an der Sprache nicht vorbeigehen. Warum sollte die Muttersprache weniger korrekt behandelt werden als die Fremdsprachen, die unsere Kinder lernen?

Am krassesten wirkt der Widerspruch natürlich in sprachwissenschaftlichen Fachbüchern, wo hochgelehrte Ausführungen über das Deutsche zu lesen sind – in ausgemachtem Deppendeutsch.

Anders als die Kultusminister uns einreden wollen, zeigt sich die Verantwortung der Zeitungen gegenüber den Schülern nicht darin, daß sie um der „Einheitlichkeit“ willen eine anerkannt schlechte Rechtschreibung mitmachen, sondern darin, daß sie die Schüler davor bewahren.



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Kommentare zu »Bildung aus einem Guß«
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Kommentar von Wolfgang Scheuermann, verfaßt am 06.03.2006 um 11.40 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=440#3090

So ist das heute in Deutschland

Schon Schreiben an die Eltern, die Lehrer den Schülern mitgeben, sind selten frei von Rechtschreibfehlern.

Da stehe ich mit meinem Wunsch, was an Schulen vermitteln sollten, dumm da.

Ich hätte gerne, daß ordentliche Kenntnisse des Deutschen (im Niveau abgestuft nach Schulart) und die sichere Beherrschung der Grundrechenarten (incl. der Prozentrechnung) das sind, was jeder Schüler mitbekommen sollte. Sehr begrüßen würde ich es, wenn zusätzlich Grundkenntnisse über unsere Gesellschaft vermittelt würden und Spaß an körperlicher Bewegung, Musik, Kunst und Natur. Und eine Fremdsprache (im Gymnasium mindestens zwei). Weiteres sollten Lehrer nur lehren, sofern sie selbst darauf brennen, das zu tun. Die Inhalte sind vergleichsweise unwichtig. Fachspezifische Kenntnisse können besser dort vermittelt werden, wo sie konkret gebraucht werden.

Das ist leider ein realitätsferner Traum. So ist das heute in Deutschland.
 
 

Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 06.03.2006 um 13.08 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=440#3091

„Falsche Propheten“

Eine Lehre, welche die Bezeichnung „aus einem Guß“ verdient, muß folgerichtig beide Teile ansprechen: „Herz und Verstand“.
Und jene Lehre kann ausschließlich dann auf fruchtbaren Boden fallen, wenn auch ihre Mittler – der Lehrer/Pädagoge/Fachreferent – Herz und Verstand gleichermaßen einsetzen.

Ausnahmslos entrüsten kann ich mich über die Äußerung des General-Anzeigers Bonn. Hier formuliert Ulrich Bumann am 06.03.06 (a.a.O.). "Man muss das neue Regelwerk ja nicht gleich lieben".
Meine Antwort: Was man nicht liebt oder nicht kann, sollte man keinesfalls lehren. Falsche Propheten sollte man von sich fernhalten, sonst wird man am Ende gar selbst noch ein solcher.
 
 

Kommentar von Tobias Bluhme, verfaßt am 06.03.2006 um 17.12 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=440#3101

vorarlberg.orf.at/stories/93738
 
 

Kommentar von Wolfgang Scheuermann, verfaßt am 07.03.2006 um 08.46 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=440#3106

Norbert Schäbler hat - indirekt - eine wichtige Frage aufgeworfen. Kann man die ZER lieben? Kann man überhaupt etwas so Ödes wie Rechtschreibung lieben? Vor über einem Jahrzehnt hätte ich eine solche Frage mit einem abschätzigen Lächeln sicherlich verneint.

Heute sehe ich das anders. Als wichtiges Hilfsmittel, Gedanken festzuhalten oder anderen nahezubringen, ist die bewährte Rechtschreibung eine liebenswürdige, ja liebenswerte Einrichtung. Wie anders wäre für sie über Jahre hin auch auf www.rechtschreibreform.com oder jetzt hier so viel Herzblut vergossen worden. Im Verlaufe der Zeit wurde selbst einem so ausgewiesenen Kenner wie Professor Ickler immer noch deutlicher, wieviel, manchmal auch etwas verborgene, Schönheit sie auszeichnet. Was sich widerspiegelt in der Eleganz und Klarheit seiner "Anleitung zum rechten Schreiben". Was so stimmig ist, "aus einem Guß", das kann man auch lieben. Kann man die ZER lieben? Das ist wirklich eine idiotische Frage. Die Antwort darauf bedeutet aber auch - laut Schäbler - daß man sie nicht wirklich lehren kann. Das ist keine schlechte Nachricht.
 
 

Kommentar von Rolf Genzmann, verfaßt am 08.03.2006 um 08.14 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=440#3184

Bildung aus einem Guß?

Zwischen Bildung und Ausbildung gibt es keinen Unterschied, wie es ja schon bei den Wörtern Bildung/Ausbildung keinen Unterschied gibt. – Das war quasi ein Beschluß unserer Kultusminister, ein unumstößlich feststehendes Gesetz, die amtliche Formulierung von Bildung. Wann? Zu Beginn der Bildungsreform, ab 1962 bis 1972.

Seitdem ist „Bildung“ etwas, das ausschließlich dem Wirtschaftswachstum gefälligst zu dienen hat und nichts als das Bruttosozialprodukt befördern darf.
Zahllose OECD-Tagungen und -Beschlüsse aus jener Zeit, bindend für die angeschlossenen Staaten, zeugen von diesem damals neuen Bildungsbegriff.
Am deutlichsten drückte den neuen Bildungsbegriff ein Dr. Schöne aus, Leiter der Planungsabteilung im Kultusministerium zu Mainz und Delegierter der Ständigen Konferenz der Kultusminister bei der OECD, am 17. 10. 1972 in der Rheinpfalz:
„... Der wissenschaftliche Fortschritt gerade auf dem Gebiet der Mathematik und Naturwissenschaften fordert seine Opfer. ... Was nützt es den Kindern, wenn man sie heute noch in die Schule ihrer Eltern schickte und diese Kinder in ihren Berufen dann später erkennen müßten, daß sie nichts, aber auch gar nichts auf der Schule gelernt hätten, was sie befähigte, den Anforderungen einer modernen Leistungsgesellschaft gerecht zu werden?“

Heute, 2006, sollte man die damals richtungsweisenden Beschlüsse und aufschlußreichen Sätze des OECD-KMK-Kommunikators doch wohl bedenken, wenn es um „Bildung“ geht.
Etwa mit: Der „wissenschaftliche Fortschritt“ hat nunmehr 34 Jahre lang seine Opfer gefordert. Schickte man die Kinder heute wieder in die Schule ihrer Großeltern, dann würden sie wieder lesen und schreiben und rechnen lernen dürfen und auch können.

„Bildung aus einem Guß“, was für eine Bildung denn und was für ein Guß, wo soll’s denn auch herkommen?
 
 

Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 08.03.2006 um 16.35 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=440#3201

“Pa/nop/ti/kum” (zu deutsch: Wachsfigurenschau)

Nie zuvor habe ich eine derart hysterische, hintergrund- und perspektivlose Debatte über Bildungsinhalte erlebt, wie jene, die sich zu Beginn des Schuljahres 1996/97 an meiner Stammschule ereignet hat. Seinerzeit entschieden sich (neben meiner eigenen) auch sämtliche Lehrerkonferenzen des gesamten Bundesgebiets mit überwältigender Mehrheit dafür, daß der ursprünglich für 1998 geplante Beginn der Rechtschreibreform um zwei Jahre vorzuziehen sei. Ob die Lehrer damit ihren Kultusministern in den Rücken fielen, sei einmal dahingestellt.

Von größerer Bedeutung ist jedoch folgendes: Die Lehrer waren spontan und widerspruchslos bereit, das bis dato gültige bewährte System gegen etwas völlig Unbekanntes auszutauschen. Dabei verzichteten die tatsächlich orthographisch Bewanderten fortan auf ihre bisherige Sicherheit und Autorität im unterrichtszentralen Medium der Schriftsprache. Sie lieferten sich damit – genau besehen – einer ideologisierten Meute aus.
Jedenfalls lehrten alle Lehrer in den Folgemonaten ohne fundierte Sach- und Fachkenntnisse, denn das offizielle 250seitige kultusministerielle Amtsblatt zur neuen Rechtschreibung (Sondernummer 1) erschien erst Ende Oktober 1996. Ob diese Umstände im Sinne der Kultusminister waren, sei einmal dahingestellt.

„Lehren geschieht unter Einsatz von Herz und Verstand“, behauptete ich in meinem jüngsten Beitrag. Nachzutragen wäre, daß im pädagogischen Alltag die Liebe zum Kind, zum Lehrstoff und zur Gesellschaft gleichermaßen wichtig sind. Auch möchte ich das Thema „Charakterbildung“ kurz andeuten, weil es doch so enorm wichtig ist, die Tugenden der Verläßlichkeit, Ehrlichkeit und des Verantwortungsbewußtseins zu fördern und zu fordern.
Ausgehend von der Allerweltsweisheit, daß Irren menschlich ist, erscheint es mir notwendig, im Zögling eine angstfreie innere Anlage zu begründen. Diese Anlage sollte dazu befähigen, gegen eigene Irrungen und Fehler sowie gegen die erkennbaren Systemschwächen anzukämpfen. Nur so kann nach meinem Dafürhalten etwas entstehen, was man einen Charakter bzw. eine mündige Persönlichkeit nennt. Ob zu diesem charakterlichen Leitbild ein Kultusminister hinzuzurechnen ist, sei einmal dahingestellt.

Die Kumis – jene ranghöchsten Pädagogen – sind stets ihren Untergebenen in den Rücken gefallen. Sie forderten von den Lehrern, daß sie ihr fachliches Wissen und Können zugunsten der „so genannten“ Staatsräson beseitigten. Sie verlangen neuerdings das Lehren von Mißständen und Fehlern, die nach der Reform der Reform verblieben sind – nunmehr allerdings zugunsten der „sogenannten“ Staatsräson. Wann werden diese Herren endlich begreifen, daß ein Staat ohne Charaktere keine Charakterbildung betreiben kann?
 
 

Kommentar von kratzbaum, verfaßt am 08.03.2006 um 17.26 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=440#3203

Lieber Herr Schäbler, Ihnen gebührt wieder einmal großer Dank dafür, daß Sie die ethische, im besten Sinne "pädagogische" Dimension des verderblichen Unternehmens Rechtschreibreform ansprechen. Dieser Aspekt kommt zuweilen etwas zu kurz. Tatsächlich richtet die Reform in in den Schulen den größten Schaden an, vergleichbar einer Mangelernährung in jungen Jahren, deren Folgen ein Leben lang nicht wieder auszugleichen sind. Der verheerende Eindruck des dauernden Hin-und-her, die offensichtliche Unfähigkeit der Erwachsenen, Fehler einzugestehen, dazu die blinde Gefolgschaft des Lehrpersonals – wenn wundert es da noch, wenn die an erster Stelle der Erziehung stehende Vorbildlichkeit zum Teufel geht? Die Schule als "Garantin des Richtigen" ist jedenfalls gründlich diskreditiert, und zwar von oben, von denen, die sie hegen und pflegen sollten. Das ist der eigentliche Skandal.
 
 

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