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26.03.2005
Änderung als Selbstzweck
Es lohnt sich, ab und zu in alten Texten zu blättern.
"Veränderung" ist bei den Reformern zum Selbstzweck geworden. Das kann man am Schicksal einzelner Wörter und Wortklassen beobachten. Nach den Wiesbadener Empfehlungen 1958, die vom Frankfurter Kongreß 1973 noch einmal bekräftigt wurden, sollte getrennt geschrieben werden: die meist gebräuchlichen wörter, weil das erste Adjektiv eine "selbständige umstandsbestimmung" ist.
1996 sollte es wieder zusammengeschrieben werden, weil meist hier kein selbständiges Wort sei, aber viel gebraucht nur getrennt. Nach der Revision von 2004 wird vielgebraucht "auch" wieder zusammengeschrieben.
Andersherum verhält es sich mit selbst. Nach den Wiesbadener Empfehlungen gilt: "Zusammengeschrieben wird aber weiterhin 'selbst' mit einem partizip, weil 'selbst' hier in einer unlösbaren verbindung steht, die syntaktisch nicht mehr gedeutet werden kann."
1996 mußten alle diese Verbindungen getrennt geschrieben werden: selbst gebackener Kuchen usw., seit 2004 "auch" wieder zusammen.
Also:
Üblich: meistgebraucht, selbstgebacken/selbst gebacken (letzteres vom Duden damals nicht anerkannt)
1958/1973: meist gebraucht, selbstgebacken
1996: meistgebraucht, selbst gebacken
2004: meistgebraucht; selbstgebacken/selbst gebacken.
Die Rückkehr zum Üblichen ist aber kein Grund zur Freude, wenn man an die Kosten jeder Art denkt, die durch die Veränderungsmanie entstanden sind.
Der Vergleich zeigt, daß die Reform von 1996 eine Momentaufnahme ist, und zwar sind die Reformer 1994 in einem ungünstigen Moment erwischt worden, weil kurz vorher (1993) die Abrißbirne in Aktion getreten und noch kein neuer Bauplan entwickelt worden war. Später ging es nur noch darum, die Trümmer zu beseitigen. Das kann dauern.
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Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 27.03.2005 um 01.26 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=42#5
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Es wurde hier an anderer Stelle schon erwähnt, und obige Beispiele zeigen es auch: Offensichtlich soll die Bildung neuer Wörter durch Zusammenschreibung, wie dies im Deutschen bisher üblich war, unmöglich gemacht werden. Was kann das für einen Sinn haben?
Wenn ich die Zusammenschreibung nicht als "sinnbildend" benutzen kann, wie soll ich dann neue Wörter bilden? Im Englischen - und man ist wohl darauf aus, das Deutsche immer mehr dem analytischen Satzbau des Englischen anzugleichen (wenn man darin also überhaupt einen Sinn erkennen soll) - gibt es immerhin die Möglichkeit, durch die adverbiale Endung "-ly" Zusammenhänge anzudeuten. Aber welche Möglichkeit haben wir im Deutschen dazu?
Oder anders ausgedrückt: Ist es reine Dummheit, das Deutsche einer Wortbildungsfunktion zu berauben, um es dem Englischen ähnlicher zu machen, aber dabei nicht zu bedenken, daß uns die Alternativen fehlen, die das Englische bietet?
Fragen über Fragen ....
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Kommentar von Jan-Martin Wagner, verfaßt am 27.03.2005 um 08.01 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=42#6
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U. Morin: ... und man ist wohl darauf aus, das Deutsche immer mehr dem analytischen Satzbau des Englischen anzugleichen (wenn man darin also überhaupt einen Sinn erkennen soll) ...
Diese Interpretation geht mir zu weit. Ich halte die scheinbare Angleichung an das Englische eher für eine unbedachte Folge davon, daß versucht wurde, willkürlich eine Grenze zwischen „zu schwierigen“ und „(einigermaßen leicht) nachvollziehbaren“ Schreibweisen zu ziehen. Es spielt ja auch keine Rolle, ob es darum ging, das Deutsche dem Englischen ähnlicher zu machen oder nicht – eine Dummheit ist es allemal, das Deutsche einer Wortbildungsfunktion zu berauben (und sei es „nur“ in der Schriftsprache).
Mithin: Ich denke, wir brauchen keine zu weitgreifenden Interpretationen, um zu zeigen, daß und warum die Reformschreibung schlecht ist. Vielmehr muß aufgezeigt werden, warum beispielsweise der hier kritisierte Zustand der Beeinträchtigung der Wortbildungsfunktion des Deutschen schlecht ist – insbesondere, da es ja „im Englischen auch zu funktionieren scheint“; von daher ist der Verweis aufs Englische sogar eher kontraproduktiv. Hier muß m.E. vielmehr an das erinnert werden, was Herr Jochems an anderer Stelle aus dem Leipziger Duden zitierte:
„Dem Wandel von der Getrennt- zur Zusammenschreibung liegt oft ein Bedeutungswandel zugrunde. Er ist also in erster Linie ein sprachlicher, erst in der Folge ein rechtschreiblicher Vorgang. Wesentlich ist, daß die Schreibung sinnvoll und unmißverständlich ist.“
Also: Es ist eine Dummheit, das Deutsche einer (schriftsprachlichen) Wortbildungsfunktion zu berauben, weil mit der sich in der Zusammenschreibung manifestierenden Wortbildungsfunktion ein Bedeutungswandel verbunden ist. Den Bedeutungswandel in der Schriftsprache zu behindern, beeinträchtigt die Kommunikation.
„Da die Entwicklung nicht abgeschlossen ist und das Nebeneinander gedanklich zusammengehöriger Wörter oft eine verschiedene Deutung zuläßt, ergeben sich häufig Fälle, wo beide Schreibungen möglich sind und wo man die persönliche Entscheidung gelten lassen muß.“
Also: Es ist eine Dummheit, das Deutsche einer (schriftsprachlichen) Wortbildungsfunktion zu berauben, weil damit die persönliche Freiheit im schriftlichen Ausdruck beeinträchtigt wird.
„Bedeutung, Betonung und Schreibung sind oft voneinander abhängig. Die Betonung gibt Hinweise für die Schreibung.“
Also: Es ist eine Dummheit, das Deutsche einer (schriftsprachlichen) Wortbildungsfunktion zu berauben, weil dies das Verständnis bzw. das flüssige Vorlesen eines Textes beeinträchtigen kann.
Fazit: Wer diese Beeinträchtigungen vermeiden will, läßt sich die hier diskutierte (schriftsprachliche) Wortbildungsfunktion nicht nehmen.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.03.2005 um 08.58 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=42#8
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In der Tat findet man den Wunsch, die Tendenz zur Zusammenschreibung durch künstliche Verbote aufzuhalten, schon in den Wiesbadener Empfehlungen, und zwar ohne erkennbare Anlehnung an das Englische. Leitend war wohl die Abneigung gegen semantische Kriterien. Das "Entstehen neuer Begriffe" usw., wie in der Dudenliteratur dargestellt, war den Reformern ein Ärgernis wegen einer gewissen Unbestimmtheit, die im obrigkeitshörigen und regelungsbesessenen Deutschland als Unsicherheit wahrgenommen wurde und die es folglich zu beseitigen galt. Das Vorbild des Englischen wurde erst von Kultusminister Meyer in seiner denkwürdigen Bundestagsrede bemüht.
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Kommentar von Ursula Morin, verfaßt am 28.03.2005 um 01.27 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=42#9
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Ich begrüße die Kommentare, vielleicht sollte man aber auch daran denken, weshalb manche Leute die übermäßige Getrenntschreibung so begierig aufgreifen und dabei noch weit über das Regelwerk hinausgehen. Es ist da sicherlich der Wunsch vorhanden, sich "modern" zu geben - und das Englische ist ja bei den Deutschen sehr beliebt, auch - oder vielleicht gerade weil - die meisten da nur dürftige Kenntnisse haben.
Ich weiß nicht, ob die Reformer mit dieser Nebenwirkung gerechnet haben, aber sie kommt ihnen zweifellos zugute. Es ist ein Teufelskreis der Dummheit ...
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Kommentar von Fritz Koch, verfaßt am 28.03.2005 um 13.49 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=42#10
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Falls die Zeitungen und die Buchverlage die wiederzugelassenen Zusammenschreibungsvarianten nicht übernehmen, sondern bei der jetzigen Primitivrechtschreibung bleiben, wird die bessere Rechtschreibung sich nicht wieder als "Hauptvariante" durchsetzen können. Die Kultusminister halten diese Varianten nach wie vor für eine unzumutbare Verunsicherung der Schüler, und es scheint nicht vorgesehen, daß im Deutschunterricht die Bedeutungsunterschiede zwischen den Varianten erklärt werden. Es genügt daher nicht, daß die früheren Schreibweisen als Varianten wieder zugelassen werden, sie müssen auch als besser dargestellt werden, und die Schriftsteller müssen gegenüber den Verlegern auf ihnen bestehen. Hier könnte sich diese Netzseite als Ergänzung zum Schulunterricht und zum Duden verstehen, zum Beispiel durch eine leicht aufrufbare Unter-Seite zur Erklärung der Bedeutungsunterschiede zwischen den zugelassenen Varianten. Bei den Schülern würde sich das schnell herumsprechen.
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Kommentar von Wrase, verfaßt am 29.03.2005 um 10.05 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=42#13
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Vorsicht!
Finger weg von dem Vorschlag von Herrn Koch. Wenn sich jemand unbedingt die Mühe machen will - vielleicht fünf Jahre lang jeden Tag drei Stunden, um ein vorläufiges Ergebnis abzuliefern -, kann man ihn nicht daran hindern. Aber dazu kommt es erfahrungsgemäß sowieso nicht. Manche Leute beten nur den alten Duden an und äußern wie Herr Koch hundertmal die Forderung, alle Varianten müßten differenziert aufbereitet dargeboten werden. Sie selber schaffen seit 1996 nicht einmal einen einzigen Buchstaben, zum Beispiel die Strecke A aus dem Duden. Und auch wenn man sehr, sehr gut und sehr, sehr fleißig wäre und es besser machen würde als der alte Duden, wird man unweigerlich mit tausend Lösungen zu zehntausend Problemen kommen.
schwer fallen, wenn "schwer zu Boden fallen" gemeint ist, schwerfallen, wenn "Mühe machen" gemeint ist? (Ein Lieblingsbeispiel derer, die nach bedeutungsgeleiteter Variantenführung rufen.) Da ist ein bißchen was dran, aber mehr auch nicht. Wenn zum Beispiel schwerer fallen auch im Sinne von "mehr Mühe machen" getrennt geschrieben wird, warum sollte dann einerseits schwerfallen (= Mühe machen) zusammengeschrieben werden, andererseits auch bessergehen (damit es dem Kranken bessergeht), nur um letzteres wiederum von besser gehen (der Kranke kann wieder besser gehen = besser laufen) zu unterscheiden? Inkonsequenzen ohne Ende.
Wie die beste handhabbare Lösung aussieht, hat Professor Ickler vorgeführt und auch oft genug erläutert. Außerdem meine ich, daß es mindestens 99,999 Prozent der Schüler völlig schnuppe ist, ob wir hier eine anspruchsvolle Variantenführung veröffentlichen oder nicht. Das einzige, was wir damit erreichen könnten, ist, uns zu blamieren und den Befürwortern der Rechtschreibreform Material zu liefern.
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Kommentar von Fritz Koch, verfaßt am 30.03.2005 um 11.29 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=42#14
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"Varianten" scheint das Super-Reiz- und -Unwort der Reformgegner zu sein, bei dem manche aufgehen wie ein von einer Variantel gestochener Hefeteig. Dieses Wespennest kann nur durch Totschweigen vernichtet werden: Varianten existieren nicht (in Anlehnung an einen Französischkurs im Fernsehen: 'Les variantes n'existent pas!').
Aber Herr Wrase ist völlig richtig: Den Schülern und vielen Erwachsenen kann der Unterschied zwischen Ergebnis-Verbzusätzen und Artangaben und zwischen den unterschiedlichen Bedeutungen von Adverbien wie 'wohl', 'meist' usw. nicht mehr vermittelt werden und interessiert sie auch nicht mehr. Deshalb lohnt es nicht, sie aufklären zu wollen.
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