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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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29.11.2005
 

GKS-Geschichte
Wie es zur vermehrten Großschreibung kam

Die im Jahre 1994 überraschend eingeführte vermehrte Großschreibung kann von vornherein nicht als unstrittig bezeichnet werden. Sie galt sogar den meisten Mitgliedern des Arbeitskreises als problematisch.

Wie es dennoch dazu kam, sei noch einmal mit einigen Details nachgezeichnet:

1991 erhielt das Institut für deutsche Sprache den Auftrag, den Entwurf einer Rechtschreibreform auszuarbeiten, jedoch mit ausdrücklicher Ausklammerung der Groß- und Kleinschreibung. Der Reformarbeitskreis legte jedoch trotzdem 1992 drei Versionen vor: gemäßigte Kleinschreibung (von Mentrup), modifizierte Großschreibung (von Munske) und Status quo; die Verfasser sprachen sich mit Ausnahme Munskes für die gemäßigte Kleinschreibung aus. Diese war denn auch das beherrschende Thema der Presseberichte, durchaus nicht zum Mißvergnügen der Reformer, die erst später wie Zabel lamentierten, dies sei doch gar nicht die Hauptsache gewesen.

Das auftragswidrige Vorgehen wurde von den Ministerialen mißbilligt:

„Die vorgelegten Reformvorschläge (...) enthalten auch Regelungsvarianten zur Groß- und Kleinschreibung. Die Kultusministerkonferenz und der Bundesminister des Innern hatten allerdings bereits bei der Beauftragung des Instituts darauf hingewiesen, daß Vorschläge zu einer Reform der Groß- und Kleinschreibung grundsätzlich nicht die Zustimmung der staatlichen Stellen finden.“ (Pressemitteilung der KMK vom 1.10.1992)

Die KMK entschied sich nach der Anhörung 1993 in Bad Godesberg für die weitere Ausarbeitung von Munskes Entwurf, der auf eine leicht vermehrte Kleinschreibung hinauslief. Bei einer Sitzung der Arbeitsgruppe GKS in Erlangen stellte Gallmann sein Konzept der vermehrten Großschreibung vor; es kam zu einem Kompromißentwurf, der die Großschreibung von Adjektiven in Phraseologismen vorsah (im Trüben fischen, im Dunkeln lassen usw.).

Bei den dritten und abschließenden Wiener Gesprächen 1994 erklärt die Schweizer Delegation zu Beginn, daß die EDK den Kompromiß ablehne. Munske und Nerius legen ihre vorsorglich ausgearbeitete Alternative vor. Der Vorsitzende Blüml erlaubt widerstrebend „höchstens 5 Minuten“ zur Vorstellung des Papiers. Die KMK-Gruppe ist verärgert und berät in der Sitzungspause mit Augst und den Schweizer und österreichischen Delegierten. Das Ergebnis ist ungefähr die Reform von 1996. Gallmann kämpft aber weiter und bis heute dafür, daß auch viel, wenig, der eine, der andere usw. groß geschrieben werden. (Die Revision 2004 bringt weitere „Fortschritte“ im Sinne Gallmanns – von Neuem, bei Weitem usw. –, und er gehört auch der neuen AG GKS an.)

Die vermehrte Großschreibung wurde dann durch Heller, Scharnhorst und Augst in die endgültige Fassung eingearbeitet, ohne daß der Arbeitskreis, der nach Wien nie wieder zusammentrat, das Ergebnis noch einmal beraten hätte. Die Arbeitsgruppe der Kultusminister schien die Wendung zur vermehrten Großschreibung (statt der eigentlich favorisierten vermehrten Kleinschreibung) entweder nicht bemerkt oder in ihren Auswirkungen unterschätzt zu haben. Die Dokumentation bei Zabel („Wüteriche“) spricht für letzteres.



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Kommentare zu »GKS-Geschichte«
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Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 29.11.2005 um 19.34 Uhr  
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Wann kommt ein "Bisschen" dran? Kommt erstens von "Bissen" und hat einen Artikel davor.
 
 

Kommentar von Yutaka Nakayama, verfaßt am 30.11.2005 um 14.53 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=301#1799

Und "ein Wenig", "ins Besondere", "ins Gesamt" usw.
 
 

Kommentar von Jens Stock, verfaßt am 30.11.2005 um 18.31 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=301#1804

Darf ich weiter machen (also fort setzen)? - "Die Beiden sagen manch Mal Ja, oft Mals Nein und morgen Früh vor Allem das Eine oder das Andere ..."
 
 

Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 30.11.2005 um 22.28 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=301#1805

Nicht zu vergessen: viel Mehr, seltsamer Weise, laut Hals, auf Recht gehen, und wo wir gerade dabei sind: Waage Recht, da Waage und Recht ja zweifellos Substantive sind.

"Wohl an" (natürlich auch im Satz mit großem "Wohl")! Es gibt für echte Reformer noch viel zu tun, um die deutsche Sprache von ihrer selbstverschuldeten Lesefreundlichkeit zu befreien.
 
 

Kommentar von borella, verfaßt am 01.12.2005 um 02.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=301#1806

Unterscheidungsschreibung bleibt Unterscheidungsschreibung! Und damit immer tückenbehaftet!

Nur Konsequente Groß-Schreibung Ist Eine Wirkliche Vereinfachung! Substantivierung Hin Oder Her. Obwohl - In Gewisser Weise Läßt Sich Jedes Wort Als Substantiv Auffassen: Das "Und", Das "Bis", Das "So", Usw.

Word Kann Auch Automatisch Kapitalisieren, Man Erspart Sich Dadurch Die Lästige Shift-Taste; Dann Hat Man Zwei Fliegen Auf Einen Schlag Erledigt: Einfach Und Effizient!

Na Bitte... ;-))
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 01.12.2005 um 06.42 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=301#1807

Wir müssen uns auf die echten Probleme konzentrieren. Zum Beispiel steht weder transsexuell noch Transe im Duden. Dabei ist Transe ja die Kurzform von Transsexueller und müßte demnach Transse geschrieben werden (Stammprinzip!). Das wäre eine deutliche Vereinfachung. Andererseits gibt es das Prinzip "Schreibe, wie du sprichst" - und wer hört schon zwei s-Laute bei transsexuell? Demnach wäre auch die Lösung Transexueller = Transe denkbar. Bitte im Rat für Rechtschreibung einbringen!

Was das mit Großschreibung zu tun hat? Soviel wie Schifffahrt = Schiff-Fahrt. Kompromisse sind immer gut, Varianten haben viel Scharm.

Alte Rechtschreibung: transsexuell, Transe

Neue Reschtschreibung:
Lösung 1: Transexueller = Transe (heute zu: Tran)
Lösung 2: Transsexueller = Transse,
Variante: Trans-Sexueller = Trans-Se
 
 

Kommentar von Kai Lindner, verfaßt am 01.12.2005 um 14.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=301#1818

@WW

Schreibe wie du sprichst? Das ist nur in der Theorie wirklich umsetzbar und paßte nur in Goethes Zeiten wirklich.

Wie spricht der Bayer, der Sachse oder Badenser? Sollen alle so sprechen, wie bei uns im "Herzogtum Oldenburg" (ich habe mal gelesen, daß man bei uns das "beste" Hochdeutsch spricht)? Schon die neue SS-Schreibung mit der Maß-Bier oder Mass-Bier funktioniert nicht mehr...

Ich würde Trans|sexuell sagen mit deutlicher Fuge zwischen den beiden S. Horcht man aber in das (wie sagte Harald Schmidt noch so treffend) Unterschichtenfernsehen, dann ergeben sich eine ganze Reihe von neuen Buchstabier- und Ableitungsmöglichkeiten.

Zurück zum Thema:

Als nur mittelmäßiger Rechtschreiber macht mir die GKS die größten Probleme und verursacht die meisten schnellen Blicke in meinen e-Duden. Und gerade hier hat die neue Rechtschreibung mich mehr verwirrt, als geholfen.

Jedoch – meine Einschätzung (Prof. Ickler mag mir das verzeihen) – stört eine falsche GKS nicht so sehr den Lesefluß, wie eine falsche (unsinnige) Getrennt-/Zusammenschreibung oder das unseelige neue "ss" (wer liest bei bisschen nicht zuerst bis|schen mit "sch" = das klingt doch irgendwie nach einem Dialekt – nur nach welchem?). Da es aber gerade die Fehler in der GKS sind, die von den Lehrern am einfachsten Entdeckt werden können, ist der Stellenwert dieses Themas für die Schule so hoch.
 
 

Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 02.12.2005 um 07.54 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=301#1835

"Da es aber gerade die Fehler in der GKS sind, die von den Lehrern am einfachsten entdeckt werden können, ist der Stellenwert dieses Themas für die Schule so hoch." ???
Sollte das nicht umgekehrt lauten? Für die Schule ist der Stellenwert der neuen s-Schreibung höher als die Regeln zur GKS, weil die s-Regel leicht nachzuplappern ist. Gerade am ss hängen die Lehrer mit verblüffender Naivität! Sie müssen allesamt realitätsblind sein, denn jeder kann sehen, daß die "so einfache Regel" in der Praxis zu falschen Schreibweisen führt. Das hindert aber die Anhänger des ss nicht daran, nach wie vor unbeirrt an die Botschaft der Erleichterung zu glauben.

Wenn etwas leicht und schnell zu erklären ist und der Schüler den Lehrsatz nachbeten kann, dann muß der Lehrsatz gut sein. Das ist das ganze Geheimnis der Erfolgsstory von Heyse auf der Basis von Adelung (ohne die es ja nicht geht).
Und beim Korrigieren bietet sich das s geradezu als Spielzeug an! Mit einem Blick kann der Lehrer mühelos richtig und falsch unterscheiden (sofern er selbst die s-Schreibung beherrscht, was bei vielen zweifelhaft, ihnen aber offensichtlich nicht bewußt ist). Eine neue Rechtschreibethik haben wir, und die hat viel mit Gesinnung, wenig mit der Frage nach der Tauglichkeit zu tun.
 
 

Kommentar von Horst Ludwig, verfaßt am 10.12.2005 um 18.46 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=301#1928

Die Schreibung im SZ-Artikel "Die Deutschen kennen uns wirklich nicht gut" ("Deutsche Türken, 3. Generation" - SZ vom 9./10. Dez. 05) ist ganz interessant. Da haben wir einerseits die "ss"-Schreibung nach kurzen Vokalen, der sich die SZ dummerweise verpflichtet fühlt. Aber es findet sich auch
"SZ: In welcher Sprache sprechen sie ["Sie" ist wohl gemeint!] mit Ihren Freunden?
Aslihan: Unter Türken sprechen wir gemischt. Reden türkisch, brechen mitten im Satz ab, reden deutsch weiter. [...]
Auf der Berufsschule kam es denen komisch vor, dass ich normal deutsch spreche [...]
Mir ist es wichtig, mit meinem Partner türkisch sprechen zu können."
Interessant ist auch: "Ich gehe auch Türkisch weg, will diese Szene aber eigentlich nicht mehr sehen" (Adverb?) und "Wenn sie mich dann sehen, sind sie überrascht: Habe ich echt mit Dir telefoniert?" (Anrede-Du?) und "Das denkst Du Dir ja selber als Türke manchmal" und "Das Vorurteil, dass Dir die Türken die Frau und den Job wegnehmen [...]" (indefinites Pronomen "du").
Bei der Zeichensetzung geht's hier — vom Englischen beeinflußt — ungeordnet, aber akzeptabel zu: "Die [Eltern] sagen, "es wäre schön, wenn Du's machst. Aber das musst Du selber entscheiden." Später aber dann ebenfalls durchaus akzeptabel mit Doppelpunkt: "Ich verstehe das nicht: Vor wem versteckst Du Dich?" Und fortschrittlichste Adverbialschreibung: "Aber zuhause mache ich [...]"
Es gibt also so manches selbstverschuldete Durcheinander bei der SZ. Es schimmert aber auch durch, daß "deutsch sprechen" etwas anderes ist als "Deutsch lernen".
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.07.2011 um 16.38 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=301#19028

1978 fand in Wien eine der vielen Vorbereitungskonferenzen statt. Die Beiträge sind erschienen: Mentrup, Wolfgang/Ernst Pacolt/Louis Wiesmann, Hg.: Zur Reform der deutschen Orthographie. Heidelberg 1979.

Das Bändchen ist großenteils schon in der ersehnten Kleinschreibung gedruckt. Die Österreicher, deren führende Rolle deutlich wird, hatten sich bereits 16 Jahre lang mit der Reform beschäftigt.

"Wir wissen alle, dass die orthographiereform, die vor allem für die schule wichtig ist, dann ihre vernünftigste und einfachste lösung fände, wenn die totale kleinschreibung eingeführt würde." (Louis Wiesmann S. 108)

Das "wußten" also alle!

Es ging dann um den Eigennamenbegriff. Wenn sie zu Appellativen geworden sind, sollten sie nach Wunsch der Österreicher klein geschrieben werden: eine xanthippe.
Silbentrennung nach Sprechsilben: a-bend
s-Schreibung nach Heyse

Augst schleust wieder seine Etymologien ein, ist aber ganz und gar auf Liberalität gestimmt: Freiräume für die Schreibenden. So schreibt er:

"Wer das Rören des Hirsches synchron zu Röhre stellt, sollte es auch mit schreiben dürfen, also *‹röhren›, ebenso *‹behände, überschwänglich, Gespinnst, Blühte›" usw.

Man solle aber wählen können zwischen gleichberechtigten Varianten in Bezug, in bezug, inbezug.

(Komischerweise wurde röhren spätestens seit 1912 sowieso mit h geschrieben, rören war immer nur regional oder als Nebenform zugelassen.)

Im übrigen ging es darum, die politischen Stellen zu gewinnen, um die Reformwünsche der Sprachwissenschaftler durchsetzen zu lassen. Es ging immer nur um Durchsetzung und Durchsetzbarkeit, eine Befragung der Begünstigten wurde nie erwogen. Zwangsbeglückung durch eine Elite von Einsichtigen. Mit der Liberalität war es dann auch bald vorbei, Varianten wurden nur aus Verlegenheit eingeführt.

Man liest diese alten Dokumente mit sehr gemischten Gefühlen. Was für seltsame Zirkel es geschafft haben, die ganze deutsche Sprachgemeinschaft zu belästigen!
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 06.04.2012 um 16.34 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=301#20376

Braille hat wegen der beschränkten Möglichkeiten seiner Punktschrift auf Großbuchstaben verzichtet.
Ich habe gerade wieder mal versucht, Braille-Zeichen zu ertasten, aber mir ist klar, daß ich sehr viel üben müßte, um sie zu unterscheiden. Eine ganz lehrreiche Erfahrung (wie auch das Dunkelcafé, in das Schüler manchmal geführt werden, damit sie erleben, wie man als Blinder lebt).
Computer mit Braille-Display sind ein Segen für Blinde. Schwachsichtige profitieren auch sehr von der Möglichkeit der beliebigen Schriftvergrößerung. So kann eine mir bekannte fast blinde alte Dame sich immer noch mit Handschriftenedition beschäftigen.
 
 

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