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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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19.02.2012
 

Das Ende naht
Georg Diez führt es herbei

Das meinen jedenfalls einige deutsche Schriftsteller.

Der Schriftsteller Kracht will deutschen Boden nicht mehr betreten, weil im SPIEGEL der Journalist Diez über Krachts neuesten Roman „Imperium“ eine abfällige Rezension geschrieben hat, worin er Kracht als verkappten Rechtsextremen darstellt. Der Verlag schickt einen offenen Brief an den SPIEGEL herum, in dem einige deutschsprachige Schriftsteller (Kehlmann, Jellinek u. a.) gegen den Verriß protestieren: „Wenn diese Art des Literaturjournalismus Schule machen würde, wäre dies das Ende jeder literarischen Phantasie, von Fiktion, Ironie und damit von freier Kunst.“
Nun haben Romane – gerade als Beispiele literarischer Phantasie und Fiktion – es an sich, daß sie unterschiedlich gedeutet werden können. Wenn Kracht eine eindeutige Botschaft vermitteln will, sollte er Abhandlungen verfassen. Auch ist nicht einzusehen, warum Verrisse das Ende der freien Kunst herbeiführen sollten, sind sie doch im Gegenteil ein Beispiel schriftstellerischer Freiheit (vgl. Goebbels' Erlaß vom 26.11.1936: Kunstkritik erübrigte sich, denn was nicht ohnehin verboten war, konnte nicht schlecht sein).
Der vermeintliche Skandal sieht eher wie eine Verlagswerbung aus, denn etwas Besseres hätte Kracht nicht passieren können, aber warum lassen sich namhafte Schriftsteller dafür einspannen? Der zitierte Satz ist ja einer der dümmsten, die man in letzter Zeit über Literatur lesen konnte.
Wenn die Schriftsteller auf jeden Verdacht gegen Handke, Walser usw. mit offenen Briefen über das bevorstehende Ende der freien Kunst antworten wollten, hätten sie viel zu tun.



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Kommentare zu »Das Ende naht«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.02.2012 um 09.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1497#20103

Wenn wir schon an so einem grauen Februarmorgen aus dem Fenster starren, will ich gleich noch was Passendes anfügen über das große Gähnen:

Um halb fünf in der Früh schiebt sich die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung in den Türschlitz. Nun gut, ich unterbreche meine Lektüre des Vimalakirtinirdeshasutras und gönne mir eine halbe Stunde weniger exotische Unterhaltung.

Frank Schirrmacher schreibt einen größeren Artikel über die Generation der „Baby-Boomer“, aufgehängt an Wulffs Rücktritt. Der Inhalt bleibt vage, ein Beispiel für die „Leere“, die angebliche Hinterlassenschaft dieser Generation, zu der Schirrmacher ausdrücklich sich selbst rechnet. Er behauptet, das „Projekt dieser Generation“ liege in Trümmern. Mir war nicht bekannt, daß diese Generation ein Projekt hatte. Schon das vielzitierte „Projekt der Moderne“ war ja ein Phantom. Seither sind viele Projekte aus dem Hut gezaubert worden. Bei Schirrmacher kommt noch die Besessenheit mit "Generationen" hinzu. Das Stimmungsbild scheint dem persönlichen Gefühl der Ausgebranntheit zu entspringen. Das weiß er auch selbst.

Péter Nádas soll in seinem neuen Roman mit traditionellen Erzählstrukturen gebrochen haben. (FAS 19.2.12) Das tut aber auch Jennifer Egan mit ihrem neuen Roman (besprochen in derselben Ausgabe) und überhaupt fast jeder, der einen Roman veröffentlicht.

Ich lese also lieber im Vimalakirtinirdeshasutra weiter und bedauere bloß, daß ich nicht genug Chinesisch kann, um es im „Original“ (d. h. der chinesischen Übersetzung aus dem Sanskrit) zu verstehen. Aber die neue Übersetzung von McRae scheint gut zu sein. (Man kann sie herunterladen.) Ich hatte innerhalb der Indologie nie davon gehört, der Text ist auch in Ostasien viel bekannter als in Indien selbst. Ich bin darauf gekommen durch den großen koreanischen Lyriker Hwang Tong-gyu, der in der Vorrede zu seinem neuesten Gedichtband schreibt:

Der Sinn kommt und geht.
Die vergangenen drei Jahre waren die Zeit, in der ich einen Seelenzustand ausgebildet habe, worin ich das „Vimalakîrti-nirdeśa-sûtra“ lesen konnte – nicht nachdem ich es gelesen hatte. Während das Zen danach strebt, daß man sein Ich bejaht und dadurch dem anderen begegnet, der sein Ich bejaht, zielt das „Vimalakîrti-nirdeśa-sûtra“ darauf, daß man den anderen bejaht und sein Ich leert. Diesen inneren Sachverhalt habe ich mir zu eigen machen können, weil ich Vimalakîrti zu spät begegnet bin. Wäre ich ihm nicht zu spät begegnet, wie hätte ich inmitten des „Vimalakîrti-sûtra“ der unendlichen Wiederholungen überleben können?
Jetzt verlasse ich das Krankenlager des Vimalakîrti. Ob die nächste Gedichtsammlung nicht vielleicht einen Zustand des Herzens formt, der mich beispielsweise Deleuze ernstlich lesen ließe, den ich jetzt zu lesen beginne und beiseite lege und wieder zu lesen beginne und beiseite lege?

Neugierig geworden? Dann müßt ihr auf die deutsche Nachdichtung dieses wunderbaren Buches warten, die vielleicht noch dieses Jahr erscheinen kann.
 
 

Kommentar von Marco Niemz, verfaßt am 20.02.2012 um 02.20 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1497#20106

Sie haben mich neugierig gemacht, und eine Suche im Internet ergab, daß eine deutsche Übersetzung dieses Werkes durch Jakob Fischer und Yokota Takezo unter dem Titel "Das Sutra Vimalakirti" bereits 1944 in Tokio erschien. Das Buch wurde 2005 im Angkor Verlag von neuem aufgelegt. Lohnt sich für Interessierte trotzdem das Warten auf die von Ihnen angekündigte deutsche Neuübersetzung?
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.02.2012 um 06.56 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1497#20107

Oh, da habe ich mich wohl mißverständlich ausgedrückt, es geht nicht um das Sutra, sondern um den koreanischen Gedichtband.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 20.02.2012 um 15.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1497#20108

Wo das Ende naht, wächst das Rettende, oder so ähnlich, und zwar im Garten, dessen Freuden Jakob Augstein (eigentlich Walser) ein neues Buch widmet, »wie es noch keines zuvor gab« (Nils Minkmar in der F.A.Z.). Na also, der Frühling kann kommen.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 07.04.2012 um 08.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1497#20381

Martin Walser hat neulich im Gespräch mit Alexander Görlach ("The European") den armen Atheisten alles Wahre, Gute und Schöne abgesprochen. Nun, damit werden sie leben können, aber warum sagt er: "In der kirchlichen Tradition kann man sich erst in der Zeit Luthers göttliche Gnade durch seine Werke verdienen. Bei Augustinus und Paulus war das noch radikal verboten."
Das klingt doch so, als habe Luther gegen Augustin und Paulus die "Werkgerechtigkeit" zur Geltung bringen wollen. In Wirklichkeit war es aber doch ganz anders, und am "sola gratia" entzündete sich der ganze Streit.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.10.2012 um 07.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1497#21806

Es gibt ja Zusammenstellungen von chinesischen Gedichten, übersetzt von verschiedenen mehr oder weniger inspirierten Übersetzern; Rober Neumann hat es trefflich parodiert. Die Schwierigkeiten sind natürlich enorm, vor allem wenn nicht nur die fremde Sprache, sondern eine ganze fremde Kultur vermittelt werden soll. Von den siebzig Gedichten des Koreaners Hwang tong-gyu, die demnächst erscheinen sollen, gebe ich mal das erste in der vorläufig endgültigen Fassung wieder. Es geht fast immer um den Tod als notwendigen und auch zu bejahenden Teil des Lebens; das versteht man auch als Nichtbuddhist:


In einem Maß, kaum zu ertragen

Dein Bild lächelt immerzu, die Zähne bleckend.
Ohne die inneren Organe, die dich erhielten, noch mehr anzustrengen,
ohne die Lebenssäfte des Körpers, der über sechzig Jahre für dich lebte, noch mehr herauszuziehen,
bist du verstohlen entschlüpft! Meine Gedanken in diese eine Richtung lenkend
ging ich durch das Zimmer, in dem die Altersgenossen meiner Söhne selbstvergessen die Go-Stop-Karten spielten,
und verließ den Aufbahrungsraum.
Der Reistraubenbaum, hinter dem die Türlampe hing, trat mir in den Weg,
auf allen Zweigen in einer Fülle, kaum zu ertragen,
kaum zu ertragen, die weißen gekochten Reiskörner.
„Iß diese noch, bevor du gehst!“
War's dies,
was du am Ende, als die Sinne aus dem ganzen Körper abflossen wie die Ebbe,
gefühlt und gesehen hast, in einem Maß, kaum zu ertragen?
Durch meinen ganzen Körper stieg das Verlangen nach Wollust.
Während ich vor dem Baum zögernd innehielt,
sprangst du in das lichte Dunkel hinein.


[Anm: Aufbahrungsraum: In Korea wird bei einem Todesfall ein Aufbahrungsraum zu Hause oder heute öfters in Kliniken eingerichtet, wo die Familienmitglieder die Besucher empfangen, die die Trauer um den Verstorbenen bezeigen. In diesem Raum wird auch in der Nacht Wache gehalten bis zur Beerdigung, und die wachehaltenden Gäste, meistens die engen Freunde des Verstorbenen oder seiner Familienmitglieder, spielen in der Nacht oft Karten.

Reistraubenbaum – Der Chinesische Schneeflockenbaum (Chionanthus retusa), koreanisch Ipap-Baum, trägt weiße Dolden, die an gekochten Reis (ipap) erinnern.]
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.03.2014 um 07.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1497#25305

Ich habe oben das Gedicht von Meister Hwang stillschweigend durch eine verbesserte Fassung ersetzt, die noch genauer ist. Inzwischen haben wir fast 150 Gedichte übersetzt und kommentiert und hoffen, daß es mit der Veröffentlichung von zwei oder drei Bänden - vielleicht sogar zweisprachig - dieses Jahr klappt.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 18.03.2014 um 12.43 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1497#25408

Nachdem ich einem guten Freund ein paar von den koreanischen Gedichten geschickt hatte, fand er sie ganz ansprechend, beklagte aber die künstlichen Pluralformen Kiese, Stäube.
Nun, eine - noch dazu möglichst genaue - Übersetzung aus einer so andersartigen Sprache muß natürlich immer entscheiden, wie weit man gehen kann. In diesem Falle kann man aber erstens aufs Internet verweisen, wo es zu Hunderten Stäube und Kiese gibt, auch Maschinen, die die Stäube aufsaugen und die Kiese verarbeiten. Nicht immer nur Sortenplurale übrigens. Zweitens sind die "poetischen Plurale" auch im Abendland von ehrwürdigem Alter, bei den alten Römern mit ihren amores kennt sie jedes lateinlernende Schulkind.

Übersetzen ist sehr nützlich und erfreulich. Man ist gezwungen, den ganzen Wortschatz und die Grammatik der eigenen Sprache wie am Schnürchen parat zu haben.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.03.2015 um 11.21 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1497#28218

Uff! Das war ja eine Heidenarbeit. Aber nun ist es soweit:

http://www.reihe-phoenixfeder.de/rpf/027.html
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 24.03.2015 um 12.16 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1497#28390

Die "Stäube" haben wir uns abhandeln lassen, die "Kiese" aber nicht:

Ein Traum vom Lachs

Ich träumte, daß ich gegen den Strom endlos aufsprang,
während ich den Schnäbeln der Vögel, den Krallen der Bären, den Wurfspeeren der Menschen mit knapper Not entkam.
Wenn ich im Sand wühlend, zwischen den Kiesen flink kriechend,
mit Wunden bedeckt
auf den Wasserfall zu springen versuchte, einige Male abstürzte,
doch Atem holend endlich hüpfend aufspränge
und in die erste Zeit meines Lebens zurückginge,
wenn ich die unerwiderte Liebe der Jugendzeit wie den blinden Stollen eines Minengangs neu beginnen,
vor sechzehn Jahren in Gokseong mit dem Wagen in das Reisfeld hineinfahren
und unter der brennenden Sonne hohl stehend auf den Abschleppwagen warten,
auf dem Weg, auf dem der gefallene Schnee, noch nicht schmelzend, beharrlich liegen bleibt,
zweimal hinfallend nach dem früheren Haus von Hoehyeondong hinaufgehen
und die Wunden des Körpers und des Herzens an dem Preßkohle-Ofen wärmend
das lichte Flüstern, das der Frost zeichnet, wieder hören könnte,
wenn ich unter den Sätzen, die ich bis jetzt kritzelte,
einiges, das inmitten des Herzens wurzelt, zum Teil abreißen
und den Atem freibekommen könnte,
würde dann nicht die Membran zwischen Innerem und Äußerem des Körpers wie beim verendenden Lachs bersten,
so daß das Grün, das Rot, die prächtigen Farben, die im Innern waren, nach außen durchbrechend herauskommen
und das Ende meines Lebens einmal furchtbar erhitzen?
Bevor ich mich am Rand des Gewässers ausbreitete und das ganze Innere den Vögeln entblößte
und zu einem schalen Wasser im Wasser würde.


Aus: Hwang-Tong-gy: Stille der Blüten. Koreanisch-deutsch.

 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.06.2017 um 10.05 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1497#35444

Einige Blütenblätter von verdorrten Chrysanthemen

Alles ist fort, es sind geblieben
auf der Handfläche einige Blütenblätter von verdorrten Chrysanthemen.

Der kurze Herbst ist fort.
Die gefallenen Blätter rieben ihren Körper an der Erde und sind fort,
und auch die Chinaschilfe, die mir mit dem Wehen ihrer weißen Haare bis auf den Hügel folgten,
sind fort.
Auch du bist fort,
und an der Stelle, wo du warst,
ist geblieben der Duft der verdorrten Chrysanthemen
wie der leichte Flügelschlag eines Schmetterlings, der gleich verwehen wird.

Daß ich in die Gasse, wo unsere Körperwärme nirgendwohin konnte und wie der Rest des Nebels umhertreibt,
wieder irrtümlich hineingetreten bin,
oder daß die Stimme der Schankwirtin ganz anheimelnd klingt,
so daß das Gesicht der Stadt im sprühenden Abendregen mir doch einigermaßen erträglich vorkommt;
wenn ich irgendwelche Dinge hätte, von denen ich dich aufs neue zu benachrichtigen habe,
werde ich das durch den Duft wie den Flügelschlag eines Schmetterlings tun.
Der Flügelschlag eines Schmetterlings könnte, sagt man, auf der anderen Seite der Erdkugel
zuweilen auch einen Sturm hervorbringen,
doch denke nur nicht, daß der Herbst noch bliebe.


(Aus Hwang Tong-gy: Freude am Leben. Koreanisch-deutsch. Übers. von Kim Kyung-hee und Theodor Ickler. Ostasien-Verlag Juni 2017)

(Der vierte Band ist auch fast fertig.)
 
 

Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 23.06.2017 um 15.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1497#35454

Faszinierend. Vergänglichkeit, so eindringlich in Bilder gefaßt, daß Beklemmung und Sorge aufkommt.

Lieber Herr Ickler, wie haben Sie eigentlich Koreanisch gelernt? Am Schreibtisch, mit Lehrbüchern? Mit Video-Kursen im Internet? Egal wie – Sie verblüffen mich immer aufs neue. Nebenher Koreanisch lernen, und zwar so, daß man koreanische Poesie versteht. Unsereiner ist stolz, wenn er es im reiferen Alter noch schafft, vor dem Türkei-Urlaub so viel Türkisch zu lernen, daß er in der Landessprache Sätze wie "Was kostet das?" hervorbringen kann.
 
 

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