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18.01.2012
Die Ausgeschlossenen
Rechtschreibung für Bäcker und Pfleger?
SZ 18.1.12: Frank Weidner, der Direktor des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung, fordert die Akademisierung der Pflegeberufe. „Angehende Bäcker oder Maler lernen an der Berufsschule Deutsch und Mathe – angehende Pfleger nicht.“
SZ wendet ein: „Das Argument Ihrer Gegner an diesem Punkt ist: Soziale Kompetenz ist für Pfleger wichtiger als Rechtschreibung.“
Der Pflegeforscher spricht natürlich pro domo. Durch die Akademisierung wird es immer mehr „Ausgeschlossene“ geben, wie Heinz Bude eindringlich dargelegt hat. Warum fragt man nicht umgekehrt, ob Mathe und Deutsch für Bäcker und Maler wirklich so wichtig sein sollen? Wieviel davon braucht der Bäcker tatsächlich – ist das je erforscht worden? Warum werden Pfleger nicht einfach im Pflegen ausgebildet statt in anderen Bereichen, die traditionellen Bildungsbegriffen entsprechen? (Man muß nicht gleich wieder ins hohe Fach der „sozialen Kompetenz“ wechseln, das ist auch wieder nur pseudowissenschaftliches Geschwätz.)
Pflege erfordert eine Menge praktischer Fertigkeiten, und außerdem sollte die Pflegeperson das Herz auf dem rechten Fleck haben. Man starrt auf den Anteil höherer formaler Ausbildung in anderen europäischen Ländern statt auf die Leistungsfähigkeit der Pfleger selbst. Es gibt aber viele Menschen, die gerade deshalb in Pflegeberufe oder andere soziale Bereiche gehen, weil sie mit Mathe und vielleicht auch Rechtschreibung nicht zurechtkommen. Jeder von uns kennt solche Personen, um die es einem jetzt schon leid tun könnte. Gerade die besonders engagierten Helfer werden in die untersten Besoldungsstufen abgedrängt und sind in Kliniken usw. die Allerletzten, während oben der akademische Dünkel triumphiert.
Aus dem Beitrag geht allerdings auch hervor, daß man sich eine bessere Bezahlung der Pfleger wünscht, und die ist nach schlechter deutscher Tradition an die formale Qualifikation gebunden, nicht an die Leistung. Aber das ließe sich ändern.
Die Zusammenhänge sind allgemein bekannt, ich kennen niemanden, der es nicht bestätigen würde, und trotzdem rennt die Politik sehenden Auges in die falsche Richtung.
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Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 23.01.2013 um 08.49 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1492#22440
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Man kann ja über die F.A.Z. sagen, was man will, aber wenn es um Bildungspolitik geht, legt sie in der Regel zuverlässig den Finger in die Wunde(n).
Zu diesem Tagebucheintrag daher der Hinweis auf den Artikel "Bachelors für die Bärchengruppe" (www.faz.net).
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Kommentar von Chr. Schaefer, verfaßt am 22.06.2013 um 10.06 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1492#23469
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Man muß bei allen diesen Äußerungen (damit meine ich solche wie die des zitierten Herrn Weidner oder auch an anderen Stellen dieser Website erwähnten) immer im Hinterkopf behalten, daß sie von angelsächsischen Wertesystemen geprägt sind, was den Autoren vielleicht nicht einmal bewußt ist.
Ob man es will oder nicht, es sind die Maßstäbe der USA und Großbritanniens, nach denen gemessen wird. Und dort steht nun einmal ein Akademiker, und sei es nur ein magerer Bachelor in Kommunikationswissenschaft, im gesellschaftlichen Ansehen höher als ein Ingenieur oder Facharbeiter. Letzteres liegt wiederum daran, daß es kein formales Ausbildungssystem mit entsprechenden Abschlüssen außerhalb der Universität gibt (Ausnahmen bestätigen die Regel).
Mir ist das erst klar geworden, als ich die Diskussionen in britischen und US-amerikanischen Medien über das "zweite deutsche Wirtschaftswunder" verfolgt habe. Viele angelsächsische Publikationen haben dabei auf die "Ungerechtigkeit" des deutschen Bildungssystems hingewiesen, das viele vom Universitätsstudium ausschlösse. Für die Tatsache, daß eine solide Berufsausbildung mit Abschluß oder ein Ingenieurstudium in Deutschland (und anderen europäischen Ländern) nicht nur hohes Ansehen garantiert, sondern meist auch ein gutes Einkommen, sind diese Bildungsstudien blind, für die extrem hohen Anforderungen einer Meisterprüfung sowieso.
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