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14.05.2011
Deutsch-Abi
Spiegel des Deutschunterrichts
Unsere Jüngste schreibt gerade Abitur, gestern war Deutsch dran. Der Unterricht hat ihr zuletzt Freude gemacht, hauptsächlich wegen des Deutschlehrers, der selbst ein bekannter Schriftsteller ist.
Aber im großen und ganzen spielt meiner Ansicht nach – nicht zuletzt in den Schulbüchern und Lernhilfen – die leidige Epochen-Schematik eine viel zu große Rolle. Gelesen wurden in der Oberstufe u. a. Faust und Büchners Woyzeck, und jetzt im bayerischen Zentralabitur wurde Grillparzers "Jüdin" vorgelegt. Nun, welcher "Epoche" würden Sie das zuordnen? Das ist doch alles Unsinn. Wie viele Vorträge von Literaturwissenschaftlern habe ich schon gehört, in denen der Epochenbegriff demontiert wurde! Unsere Tochter hätte in der Zeit, die sie auf solche Übersichten verwendet hat, etliche Werke lesen können, aber sie glaubte mit einem gewissen Recht, die Schematik müsse sie sich einprägen. Hofmannsthals "Erlebnis" ist eine ziemliche Zumutung, verglichen mit den Gedichten, die sonst im Unterricht besprochen worden sind. Viele haben dann das Sachtextthema oder das eher demütigende Laberthema (Erörterung) gewählt, weil sie mit dieser Art Literatur nichts anfangen können.
Nun diskutieren die bayerischen Schüler im Netz überall, was sie gestern gemacht und versäumt haben, und die Lehrer sollten das wirklich lesen! Das sind die eigentlichen Früchte von 12 Jahren Deutschunterricht. Es holt einen auf den Boden der Wirklichkeit zurück.
Nachtrag: Die Lehrer waren anscheinend ziemlich geschockt, als sie die Themen auspackten. Derselbe Hinweis kommt von anderen Schulen. Übrigens habe ich selbst immer sehr gern Aufsätze geschrieben, aber trotzdem finde ich das ganze Abi-Theater töricht. Es ist ja auch gerade das Gegenteil von Wissenschaftlichkeit, ohne Hilfsmittel einen Stegreifaufsatz über einen völlig unbekannten Text zu schreiben. In der Zeitung stand vor ein paar Tagen, daß das Kultusministerium sich nicht entscheiden konnte, welche Wörterbücher in der neusprachlichen Klausur benutzt werden dürfen. Zuerst sollten die Grammatikanhänge überklebt werden, dann hat man sie für die nächsten zwei Jahre doch noch zugelassen. Ab 2014 müssen dann Wörterbücher hergestellt und angekauft werden, die garantiert keine Grammatik enthalten. Die Universitäten treiben seit Jahrzehnten Wörterbuchbenutzungsforschung und geben Hinweise, wie man ein Wörterbuch klug nutzt. Und die Wörterbuchmacher bemühen sich nicht ohne Erfolg, alles ins Wörterbuch zu packen, was ein kluger Benutzer dort finden sollte, z. B. sogar eine genaue grammatische Auskunft bei jedem Wort! Weil eben Grammatik weitestgehend die Grammatik von ganz konkreten Wörtern ist. (Der legendäre Harold E. Palmer hat schon vor 80 Jahren musterhafte Werke dieser Art geschaffen.) Alles zerschellt an der Stupidität der Ministerialbürokratie, die kurzerhand überklebt, was die Lexikographen mühsam erarbeitet haben.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.06.2011 um 11.06 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1449#18793
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Schilda lebt! Der bayerische Schulminister läßt nachträglich die Bewertungsmaßstäbe für Abiturnoten ändern, damit nicht so viele G8-Absolventen durchfallen. Ein entsprechendes Schreiben erhielten die Gymnasialdirektoren nach Abschluß aller Prüfungen. In der Schule nennt man ein solches Verhalten „Schummeln“.
Aber was haben wir erwartet? Auch die Rechtschreibreform wurde zum Erfolg erklärt, obwohl jeder weiß, daß sie ein Desaster ist.
Diese sieben Jahre G8 waren eine Leidensstrecke für Schüler und Lehrer. Oft fehlten monatelang die Bücher, dann erwiesen sie sich als schlampig gemacht, obwohl natürlich für den flüchtigen Blick schön attraktiv. Nicht zu unterschätzen ist der psychologische Effekt: Lehrer und Schüler haben in dieser Zeit bestimmt keine sehr hohe Meinung von der Weisheit des Schulministerium gewonnen. Das dürfte bleiben.
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Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 06.06.2011 um 13.55 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1449#18805
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Thomas Steinfeld hat heute in der "Süddeutschen Zeitung" einen lesenswerten Artikel veröffentlicht. Zum Thema "Schilda lebt", zum gescheiterten verkürzten Gymnasium (G 8) sowie zur Bedeutung einer Abschlußprüfung, die auf ministeriellen Druck um der Quote willen aufgeweicht werden kann: www.sueddeutsche.de.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 10.06.2011 um 08.54 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1449#18840
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Die bayerischen G8-Abiturienten unterscheiden sich bestimmt nicht von den G9-Abiturienten, sollten also, wenn alles stimmt, statistisch ungefähr dieselben Ergebnisse erzielen. Das ist aber unabhängig von der nachträglichen Veränderung der Maßstäbe (die nur das unerwünschte massenhafte Durchfallen verhindert) nicht der Fall.
"Es zeichne sich ab, dass das Abitur des G 8 deutlich besser ausfalle als des G 9, sagte der Kultusminister; nach einer Stichprobe in knapp einem Drittel der Gymnasien sei mit einem landesweiten Abiturdurchschnitt der Absolventen des G 8 zwischen 2,2 und 2,3 zu rechnen; im G 9 habe der Durchschnitt über lange Jahre bei 2,4 gelegen. Mit signifikanten Unterschieden sei auch bei den besonders begabten Abiturienten zu rechnen; die Zahl der Absolventen, die einen Notendurchschnitt zwischen 1,0 und 1,5 erreichten, werde beim G 8 im Vergleich zum G 9 voraussichtlich um vierzig Prozent zugenommen haben." (Meldung vom 9.6.11)
Wie wenig der Minister die Sache verstanden hat, ergibt sich aus seinem Frohlocken über das bessere Abschneiden des G8-Jahrgangs. Er hätte zufrieden sein dürfen, wenn sie im wesentlichen genau gleich abschneiden wie die G9er.
Nun ergibt sich ein Engpaß bei der Begabtenförderung, weil das Ministerium auf die enorme Zunahme der besonders begabten Abiturienten nicht vorbereitet war und kein zusätzliches Geld ausgeben will. Wie gesagt, Schilda lebt.
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