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12.09.2009
Bäuerchen
Zur Etymologie "anstösziger wörter"
In der Süddeutschen Zeitung macht man sich Gedanken, wie das "Bäuerchen" sprachlich zu erklären ist.
Beim Aufziehen von drei Kindern habe ich mit Hunderten von Bäuerchen meine Erfahrungen gemacht, und es ist dementsprechend auch schon lange her, daß mir der Gedanke gekommen ist, eine andere Erklärung zu suchen als die übliche, die ja auf das unkultivierte Benehmen rülpsender Landwirte zurückgreift. Es gibt natürlich eine scheinbare Parallele in "einen Diener machen", aber das geht wohl zurück auf die Redewendung "Ergebener Diener!" usw., ist also gewissermaßen "delokutionär".
Als ich damals nachschlug, fiel mir auf, daß der "kalte Bauer" in den neueren Wörterbüchern fehlt, obwohl jeder deutsche Mann ab zehn oder zwölf, wenn er nicht hinter dem Mond lebt, ihn kennt. Jacob Grimm schreckt bekanntlich vor nichts zurück (s. Vorwort: "anstöszige wörter") und führt u. a. aus:
"Diese gothischen wörter scheinen nun fortzuleben in einem aporrheton der heutigen sprache, dem alle glossare ausweichen, so allgemein es verbreitet ist, als bezeichnung einer turpitudo, die der europäische sprachgebrauch durch den ausdruck onanie (nach 1 Mos. 38, 9) verschleiert. unsere deutsche philologie kann aber nicht umhin eine benennung zu erkunden, die wol von uralter zeit her züchtige rede auf unzucht anwendet; denn was möchte besser anstehn als lust wider die natur kalte lust zu heiszen? kalt, wie frigidus und psychros, gibt den nebensinn von miser und languidus, infestus, inutilis, frigida negotia sind nullius momenti, kalte ratschläge sind böse, in der edda liest man 67a scolo þer æ köld râð koma; 138b köld [1,1176] ero mer râð þîn; kallaði kaldri röddo, infesto sermone; kalte träume sind unglückliche. lust hat, neben der bedeutung wollust, immer auch den reinen sinn behauptet. bauer für lust ist uns erloschen, in kalte bauer haftete das wort, längst unverstanden und desto gemiedener.
Der ausdruck herscht, vielleicht mit ausnahme nördlicher, niederdeutscher landstriche (namentlich soll er in Holland unbekannt sein), in ganz Deutschland und läszt sich über Schlesien, Deutschböhmen und Österreich bis in die Steiermark, über das Elsasz in die Schweiz verfolgen. ein elsässischer arzt sagt, bauer sei insgemein spérma, warmer bauer die natürliche beiwohnung, kalter bauer onanie, und so genommen liesze sich bauer unmittelbar zu phyein zeugen, physis zeugende, schaffende natur halten, vielleicht auch die schweizerische bedeutung von bau, befruchtendem dünger vergleichen. denn in der Schweiz kommt daneben vor: er tribtem selb d'natur ab, gewöhnlicher: macht en chalte bûr; die chalte bûre hâ bezeichnet pollutionen haben, gleichsam erfolglose, unwirksame lust. in Steier heiszt onanieren den kalten bauer schlagen oder herunter reiszen, die Slovenen in der gegend von Laibach übersetzen wörtlich aber falsch merzel kmet, bauer für rusticus nehmend, ebenso unrichtig die polnischen Schlesier zimny chlop, eigentliche Polen wissen nichts davon. unter dem westfälischen volk ist der name meistentheils gangbar, unbefangen und ohne sittlichen vorwurf heiszen ihm spuren der pollution de kalle bûr. in Niedersachsen scheinen wenigstens die städte, wenn auch nicht überall die dörfer das wort zu kennen. weitere forschungen müssen darthun, ob es in Scandinavien auftaucht, oder diesem volksstamm gebricht."
(Griechisches habe ich transkribiert.)
Mir fehlen im Augenblick Zeit und Mittel, der Sache weiter nachzugehen, aber ich gebe zu bedenken, ob das Bäuerchen nicht mit einer sehr alten Bezeichnung für eine harm- und fruchtlose "Hervorbringung" zusammenhängen könnte.
Das Rülpsen – um auch dies noch zu erwähnen – ist ja kulturell sehr unterschiedlich konnotiert. In manchen Ländern darf man bei Tisch vernehmbar rülpsen, aber um Himmels willen sich nicht "schnäuzen", anderswo ist es umgekehrt. Unvergessen der posaunenartige Rülpser eines dicken Inders am Frühstückstisch in einem Kaff in Rajasthan ... Meine Töchter, deren Bäuerchen ich einst überwacht und befördert habe, sind so empfindsam, daß sie schon Zustände kriegen, wenn ich in meiner wissenschaftlichen Art ("unsere deutsche philologie", s. o.) auch nur vom Rülpsen zu sprechen wage.
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Kommentare zu »Bäuerchen« |
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 25.08.2020 um 05.33 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1209#44181
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Das Deutsche Wörterbuch nimmt sich vor, auch "anstöszige wörter" ohne Naserümpfen aufzunehmen. Andererseits überrascht immer wieder die Mißbilligung von Sprachwandel; der Formenbestand soll möglichst so bleiben, wie er ist oder war. Beispiel:
"flecke, m. gen. flecken, pl. flecken, ahd. flëccho, gen. flëcchin, pl. flëcchon, mhd. vlëcke, vlëcken, nhd. aber häufig mit übler tilgung der schwachen form flecken, gen. fleckens. erträglich ist der nom. sg. fleck."
Auf diesen Fall war ich übrigens gestoßen, weil mir nicht klar ist, wann ich Fleck und wann Flecken sage. Der Flecke, den Grimm bewahren wollte, ist in der Standardsprache ausgestorben.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 04.05.2017 um 07.11 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1209#35011
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Wir deutschen Bärenhäuter zerlegen bekanntlich unser Mittagessen mit einem scharfkantigen Stein ("Messer"). Aber falls sich ein Engländer zivilisierter vorkommt, sei er daran erinnert, daß er die Suppe mit einem Holzspan ("spoon") in den Mund befördert.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 27.01.2014 um 16.58 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1209#24957
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Schulwörterbücher des 19. Jahrhunderts wurden ebenso wie Lesebücher und Klassikerausgaben sehr ängstlich von "Stellen" gereinigt, die bei Mädchen jungfräuliches Erröten und langfristig Vernachlässigung hausfraulicher Pflichten zur Folgen haben mußten, bei Knaben aber ganz unaussprechliche Laster. Noch in meiner Kindheit waren Dinge und Worte von einem wollüstigen Gruselreiz umgeben, über die wir heute von morgens bis abends achtlos hinweggehen.
Fellatrizen scheint es häufiger zu geben als Fellatoren (Google). Ich habe folgende unterhaltsame und lehrreiche Diskussion gefunden:
Fellatrix secretly impregnates self with the ejaculate. Must the man support the child?
STATE v. FRISARD III
STATE of Louisiana and Debra A. Rojas v. Emile C. FRISARD, III.
No. 96-CA-368.
(https://groups.google.com/forum/#!topic/lawmen/rDK8DafQS44)
Skinner beschäftigt sich in seinen "Notebooks" kurz mit der lateinisch belassenen Darstellung sexueller Exzesse in der Übersetzung von Suetons Kaiserbiographien: "A Latin-English dictionary gives the meanings of the words, but without a knowledge of grammar it is impossible to discover 'who does what with which to whom.'" (313)
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Kommentar von Wolfgang Wrase, verfaßt am 27.01.2014 um 13.53 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1209#24953
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Anders als Jacob Grimm hat sich Hermann Menge offenbar von Anstößigkeit beeindrucken lassen. In meinem Taschenwörterbuch Lateinisch – Deutsch (Langenscheidt, Neubearbeitung 1963) sehe ich zufällig (ich schwöre, zufällig!), daß fel(l)ator gar nicht übersetzt wird. Stattdessen steht da als Erklärung: qui penem lambit.
Eine fellatrix gibt es gleich gar nicht. Dafür gibt es die Fellatrix bei Duden online, sogar mit Plural: Fellatrizen! Umgekehrt hat Duden online aber keinen Fellator. Vielleicht ist der Fellator anstößig.
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Kommentar von Stephan Lahl, verfaßt am 14.09.2009 um 11.34 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1209#14961
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Als ich damals nachschlug, fiel mir auf, daß der "kalte Bauer" in den neueren Wörterbüchern fehlt, obwohl jeder deutsche Mann ab zehn oder zwölf, wenn er nicht hinter dem Mond lebt, ihn kennt.
Dann bin ich wohl hinter dem Mond aufgewachsen, denn ich habe das noch nie gehört. Ich kenne nur "einen Bauer machen" (Wurst abseilen).
Grimms Absatz würde zu bûwen, biuwen, bouwen passen, wie es im Lexer geführt wird. Dann wäre man bei der traditionellen Analogie Samen-Ackerboden-Frucht gelandet.
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Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 12.09.2009 um 10.30 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1209#14958
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Das Obszöne führt – in der Literatur, Linguistik und Soziologie – ein Dasein am Rande. Namhafte Editoren wissenschaftlicher Werkausgaben behalfen sich früher mit den bekannten Dezenzstrichen, um einen Text zu purgieren. Gestrichen wurde beispielsweise gerne in Grabbes "Gothland", Goethes Walpurgisnachtszene in "Faust I", in Heinses "Ardinghello" usw.). Wieland hat ja bekanntlich mit derartigen Strichen ein ganz eigenes Spiel gespielt, indem er Anstößiges etwa in seiner Shakespeare-Übersetzung zwar getilgt hat, seine Leser aber durch Fußnoten eigens darauf aufmerksam gemacht hat, doch vielleicht mal das unzensierte Original zu konsultieren.
Inzwischen werden die Obszönitäten nicht mehr getilgt, jedoch auch nicht kommentiert (Thomas Manns Tagebücher). Eigentlich also immer noch so, als wären sie nicht da.
Gibt es inzwischen etwas dem Fuchs (Sittengeschichte) oder dem Bornemann (Wortschatz) Vergleichbares? Ich habe da womöglich den Anschluß verpaßt.
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