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13.06.2009
Wahrig 2002
Zur Geschichte der neueren Wörterbücher
Kürzlich stieß ich auf ein hübsches Beispiel lexikographischer Fehleinschätzung. Als der Bertelsmann-Wahrig 2002 neu herauskam, erschien eine knappe Rezension von Annette Leßmöllmann in der "Zeit". Beate Varnhorn, die Redaktionsleiterin bei Bertelsmann, wurde zur Stichwortauswahl befragt:
"'Leitkultur' zum Beispiel hat es nicht in den Wahrig geschafft. 'Das Wort war eine Eintagsfliege', sagt Varnhorn dezidiert."
Das Wort "Leitkultur" kann man auch heute noch sehr oft lesen. Es ist zwar scheußlich, weil es – meistens – einen unangenehmen Anspruch ausdrückt, aber es ist noch da und wird wohl auch bleiben.
Ich habe damals an Beispielen gezeigt, daß die Zusammenarbeit der Wahrig-Redaktion mit den Computerlinguisten der Universität des Saarlandes nicht viel gebracht hat. Die lexikostatistische Untermauerung der Stichwortauswahl ist wohl nur ein kostspieliger Humbug gewesen.
Meine Besprechung war in der Süddeutschen Zeitung erschienen und ist im Netz greifbar, aber vielleicht sollte ich sie auch hier noch einmal einschalten, damit die historische Dokumentation allmählich lückenloser wird. Es haben sich seinerzeit auch nicht viele die Mühe gemacht, die neuen Rechtschreibwörterbücher – die wirklichen Eintagsfliegen – genauer zu lesen. Also hier ist der alte Text (ohne Kursive):
Lücken und Leichen
von Theodor Ickler
Wahrig: Die deutsche Rechtschreibung. Verfasst von Ursula Hermann, völlig neu bearbeitet und erweitert von Prof. Dr. Lutz Götze. Gütersloh/München: Bertelsmann Lexikon Verlag 2002. 1200 S. - 14,95 Euro.
Als im Jahre 1999 eine erheblich veränderte zweite Auflage der reformierten Bertelsmann-Rechtschreibung erschien, erklärte der Verlag, damit liege nun ein Werk vor, das den Anforderungen der nächsten zwei bis drei Jahre gerecht werde. Da die Rechtschreibkommission, ohne offiziell auch nur ein Jota ändern zu dürfen, unablässig am Rückbau ihres mißlungenen Regelwerks arbeitet, war solche Vorsicht wohlbegründet. In der Tat liegt nun nach kaum drei Jahren eine revidierte Neufassung vor.
Stichwortauswahl
Laut Vorwort wurde erstmals ein elektronisches Korpus von 500 Millionen laufenden Wörtern ausgewertet; damit sollten „Lücken“ und „Leichen“ entdeckt werden. Dies bezieht sich also nur auf die Stichwortauswahl, nicht auf die tatsächlich vorgefundenen Schreibweisen, um die es ja bei einem Rechtschreibwörterbuch in erster Linie geht. Immerhin sind nur solche Medien ausgewertet worden, die sich mehr oder weniger der Neuregelung angeschlossen haben, also nicht die F. A. Z.
Man sollte meinen, daß automatisch alle Einträge des amtlichen Wörterverzeichnisses aufgenommen sind, das ja integraler Bestandteil der Neuregelung ist. Das ist aber nicht der Fall. So vermißt man Graecum (das nur noch in dieser Schreibweise zulässig sein soll); es scheint auch im Korpus nicht hinreichend oft belegt zu sein. Auch Holster fehlt. Man sollte bei korpusgestützer Arbeit auch erwarten, daß wiederauferstehen und Wiederauferstehung, die im Duden traditionell fehlen, endlich nachgetragen werden. Stattdessen findet man Raritäten wie Nearthrose (übrigens mit schiefer Erklärung) und Beidrecht. Raumton ist verzeichnet, Raumklang nicht, obwohl es hundertmal so häufig gebraucht wird. Zwar steht gebauchkitzelt auch im „Großen Wörterbuch“ von Duden, es ist aber so gut wie unbekannt; man sagt gebauchpinselt. überm Berg sein wird seltener gebraucht als übern Berg sein, aber dieses fehlt. Das Adjektiv flotativ ist kaum belegbar, für Fivevowelword findet man – in welcher Schreibweise auch immer – selbst bei weltweiter Suche im Internet keinen einzigen Beleg. Gern hätte man erfahren, wie ewiggestrig jetzt geschrieben wird, aber es scheint in dem ganzen Riesenkorpus nicht belegt zu sein. Das Ewigweibliche kommt zwar substantiviert vor, aber das dazugehörige Adjektiv darf es wegen der -ig-Regel nicht mehr geben.
Beijing findet man nur unter Peking, während der wenig bekannte neue amtliche Name Mumbai sowohl als eigenes Stichwort wie auch unter Bombay verzeichnet ist. Bei Kalkutta scheint sich gar nichts geändert zu haben. Die Auflösung der Tschechoslowakei ist eigentlich kein Grund, auch den Namen zu unterdrücken. Was die Auswahl der Personennamen betrifft, so finden wir nach bekanntem Duden-Brauch zwar Stalin, nicht aber Hitler oder Goebbels, obwohl zumindest der letztere sehr wohl „rechtschreibliche Schwierigkeiten aufwerfen könnte“ – laut Benutzungshinweisen ein Kriterium für die Auswahl. Aber es scheint überhaupt eine gewisse „Begünstigung“ des linken Lagers zu herrschen, denn man findet Lenin, Trotzkij, Liebknecht, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, jedoch keinen Bundespräsidenten außer Heuss und nicht einmal Ludwig Erhard, dessen Namen schon heute viele Menschen nicht mehr richtig schreiben können.
Die hohe Zahl der Einträge ist vielleicht gut für den Wettbewerb, lexikographisch aber sinnnlos. Sechzig Zusammensetzungen mit Grund-, dreißig mit Geschäfts- usw. bieten orthographisch nichts Neues.
Typographie und Aufbau
An typographischen Neuerungen fällt auf: Jedes Stichwort steht jetzt, wie im neuen Duden, auf einer eigenen Zeile; auch der Flattersatz ist übernommen. Der Druck wirkt insgesamt dünn und blaß, so daß die haarfeinen senkrechten Trennungsstriche kaum noch sichtbar sind und ihre unterschiedliche Farbe (blau für „neu“) sich nur unter günstigen Lichtverhältnissen von sehr scharfen Augen erkennen läßt. (In dieser Besprechung werden sie durch Bindestriche ersetzt.)
Neu sind einige Informationskästen zu Stichwörtern wie Baiser oder Quarantäne an den Stellen des Alphabets, wo man aufgrund der Aussprache (Be-, Ka-) zuerst nachschlagen würde. Man muß also nicht schon wissen, wie es geschrieben wird, um überhaupt nachschlagen zu können – eine sinnvolle Neuerung, die allerdings bisher nur wenige Fremdwörter betrifft, also zum Beispiel nicht Business, Jazz u. v. a.
Geblieben ist die kurze alphabetische Grammatik im Anhang. Die Tabelle mit neuen orthographischen Varianten ist vor das Wörterverzeichnis gezogen. Dort stehen auch die amtlichen Regeln mit kurzen Hinweisen auf die bisherige Regelung. Götzes Geschichte der Rechtschreibung ist aufs neue abgedruckt; sie übergeht die in der ersten Auflage noch erwähnte Rechtschreibreform des Reichserziehungsministers Rust, die der gegenwärtigen Reform nach Inhalt und Zielsetzung am nächsten kommt, weiterhin mit Stillschweigen. Der Titel von Konrad Dudens Wörterbuch aus dem Jahre 1880 ist immer noch nicht korrekt wiedergegeben. Vor den eigentlichen Regeln steht wieder Götzes eigener Überblick, der aber mit falschen Aussagen und reformpropagandistischem Nebel eher Verwirrung stiftet.
Laute und Buchstaben
Die Maß Bier darf nicht nur wie im Duden auch Mass geschrieben werden, sondern Bertelsmann läßt überhaupt nur noch diese Schreibweise zu, setzt also die süddeutsche kurze Aussprache als alleingültig voraus – sicherlich zu Unrecht. Eine sonderbare Unterscheidung gibt es bei der Wortfamilie um Phantasie:
„Der Anlaut des aus dem Griechischen stammenden Fremdworts Phantasma (ebenso: Phantasmagorie, phantasmagorisch) darf nicht mit der Buchstabenfolge Fan- wiedergegeben werden, obgleich dies bei anderen Mitgliedern dieser Wortfamilie (z. B. Fantasie, Fantast usw.) die orthographische Hauptvariante geworden ist.“
Man glaubt geradezu das Kopfschütteln zu sehen, mit dem die Redaktion diese schwer lernbare, aus dem amtlichen Text nicht ableitbare Ausnahmeregelung formuliert hat; immerhin schreckt die Neuregelung ja an anderer Stelle nicht einmal vor Fonetik u. ä. zurück.
Bei Walnuss wird erklärt, warum nach dem kurzen u ein Doppel-s steht, nicht aber, warum nach dem kurzen a kein Doppel-l steht. Es soll weiterhin gelten Justizium („Stillstand der Rechtspflege“), obwohl es nicht von Justiz abgeleitet ist, aber das genau entsprechende Solstitium bleibt unangefochten. Um die Unsinnigkeit der Neuschreibung bläuen (für „schlagen“ und nicht etwa „blau färben“) nicht gar zu sehr ins Auge fallen zu lassen, hat die Redaktion den Bleuel („Holzstock zum Klopfen nasser Textilien“ – so noch 1996) kurzerhand gestrichen. Im Duden dagegen wird die Wäsche mit einem Bleuel gebläut!
Silbentrennung
Bei der Silbentrennung sind weitere Neuerungen eingeführt. So gilt als Vorzugstrennung jetzt A-spik; aus einem Kasten erfährt man, daß auch As-pik getrennt werden kann. Trennungen wie Spitza-horn werden zwar weiterhin vorgeführt, von Zeit zu Zeit erfolgt jedoch eine Warnung davor, sie auch tatsächlich anzuwenden. Es bleiben aber noch Tausende von unsinnigen Trennvarianten, vor denen nicht gewarnt wird: A-neurysma, Bi-otonne, Det-ritus, dreie-ckig, O-blate, O-bligo usw. Sehr überraschend wirkt der folgende Kasten:
„Die Buchstabenfolge exe... kann in Fremdwörtern auch e-xe...getrennt werden. Die zweite Trennvariante gilt jedoch ausschließlich bei mit exequ- beginnenen Wörtern wie z. B. Exequatur.“
Damit entfallen viele in der vorigen Auflage verzeichnete Trennmöglichkeiten wie E-xegese, e-xemt usw. Es ist unklar, woher diese neue Einschränkung stammt; im amtlichen Regeltext hat sie keine Grundlage. Bei den griechischen Präfixen scheint etwas von Grund auf schiefgelaufen zu sein:
„Die Buchstabenfolge a-po-st... kann in Fremdwörtern auch a-pos-t... getrennt werden. Die zweite Trennvariante gilt jedoch ausschließlich bei Bildungen, in denen die fremdsprachigen bzw. sprachhistorischen Bestandteile noch deutlich als solche erkennbar sind, wie z. B. in Aposteriori.“
Unter den Einträgen selbst werden dann aber gerade A-po-stat, A-po-stroph usw. so markiert, daß man eine weitere Trennstelle zwischen s und t ansetzen muß, während A-pos-te-ri-or-i variantenfrei nur an dieser Stelle getrennt werden darf. Gerade umgekehrt ist es eine Seite später:
„Die Buchstabenfolge a-pr... kann in Fremdwörtern auch ap-r... getrennt werden. Die zweite Trennvariante gilt jedoch ausschließlich bei Bildungen, in denen die fremdsprachigen bzw. sprachhistorischen Bestandteile noch deutlich als solche erkennbar sind, wie z. B. in Apriori.“
Dieses kann aber laut Eintrag nur A-pri-ori getrennt werden, im Gegensatz zu A-pri-ko-se, A-pril usw., für die eine weitere Trennvariante zwischen p und r angegeben ist. Andere Präfixe wie ana-, epi-, kata-, peri- werden kommentarlos als grundsätzlich undurchsichtig behandelt: Anas-tomose, Peris-kop, Metas-tase usw. sind zulässige neue Trennungen.
In einem besonderen Kasten wird erklärt:
„Die Buchstabenfolge par-o... kann in Fremdwörtern auch pa-ro... getrennt werden. Davon ausgenommen sind Zusammensetzungen, in denen par... sprachhistorisch nicht auf die aus dem Griechischen stammende Vorsilbe para... zurückgeht, z. B. bei Parole, Paroli.“
Wie aber dann auch die weiteren Einträge zeigen, ist es gerade umgekehrt, denn selbstverständlich können gerade Parole und Paroli nur an der betreffenden Stelle getrennt werden, während das für die griechischen Wörter wie Parodie nur fakultativ gelten soll.
Gerade bei der Silbentrennung werden neuerdings erhebliche Fremdsprachenkenntnisse vorausgesetzt. Es gibt mehrere Informationskästen, die etwa solche Botschaften enthalten:
„Die Buchstabenfolge kon-tr... kann in Fremdwörtern auch kont-r... getrennt werden. Davon ausgenommen sind Zusammensetzungen, in denen die fremdsprachigen bzw. sprachhistorischen Bestandteile deutlich als solche erkennbar sind, z. B. -trahieren (vgl. subtrahieren).“
Folglich wird Kontrahent nicht wie Kontrast getrennt, obwohl die Undurchsichtigkeit und volksetymologische Umdeutung gerade bei Kontrahent („Gegner“ statt „Vertragspartner“) sprichwörtlich ist. Immerhin verlangt man solche Lateinkenntnis von Benutzern, die angeblich die Bestandteile von deutschen Wörtern wie diesmal oder herunter nicht zu erkennen vermögen. Mit den neuen Fremdworttrennungen desavouiert das Wörterbuch die mehrfachen Beteuerungen seines Herausgebers im ersten Teil, daß die Neuregelung „etymologische Kenntnisse nicht oder nur in geringem Maße“ voraussetze.
In seiner eigenen Praxis verzichtet das Wörterbuch lieber auf eine ordentliche Zeilenfüllung als auf Trennungen wie he-rum. Die Trennung Jugos-lawien, die das Wörterbuch angibt und unter Belgrad tatsächlich praktiziert, ist so unhöflich, wie es Deut-schland wäre.
Getrennt- und Zusammenschreibung
Bisher schrieb man geradebiegen (mit Resultativzusatz); die Neuregelung unterscheidet zwischen der wörtlichen Bedeutung und der metaphorischen; im ersten Fall muß jetzt getrennt geschrieben werden, im zweiten zusammen – eine Erschwerung, die genau auf der Linie der semantischen Haarspaltereien liegt, die man am alten Duden nicht ganz zu Unrecht kritisiert hatte. Völlig neu ist aber nun das folgende Kriterium:
„Folgt auf gerade ein Verb, gilt Getrenntschreibung, wenn gerade durch wie erfragbar ist.“
Von solchen Proben weiß das amtliche Regelwerk nichts.
Stehengeblieben ist die falsche Getrenntschreibung bei gleich bedeutend, wohl in Analogie zu gleich lautend. Man sagt zwar, daß zwei Wörter gleich lauten, nicht aber, daß sie gleich bedeuten. Besonders sinnlos ist die Angabe, daß statt gleichbedeutend (mit einem Akzent) künftig gleich bedeutend (mit zwei Akzenten) zu schreiben sei.
Eine durchgreifende Änderung bahnt sich bei den besonders anstößigen Getrenntschreibungen von zusammengesetzten Adjektiven wie furchterregend, gefahrbringend usw. an. Hierzu gibt es zahlreiche Kästen mit der völlig neuen Erklärung:
„Die Fügung aus Substantiv und Verb/Partizip wird getrennt und das Substantiv mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben: ein Furcht erregendes Tier. Da der mehrteilige Ausdruck auch als adjektivische Zusammensetzung aufgefasst werden kann, ist als Variante die Zusammenschreibung korrekt: ein furchterregendes Tier. Bei Erweiterungen oder Steigerungen gilt nur die Zusammenschreibung: ein äußerst furchterregendes Tier; eine noch furchterregendere Erscheinung.“
Ebenso bei vertrauenerweckend und vielen anderen. Damit greift das Wörterbuch – in Abstimmung mit der Rechtschreibkommission – Argumente der Reformkritiker auf und stellt genau die bisherigen Schreibweisen wieder her; ein wesentlicher Teil der Neuregelung (§ 36) ist außer Kraft gesetzt. Leider wird dieser Rückbau nicht konsequent durchgeführt, denn natürlich kann man auch Energie sparend, Eisen verarbeitend, Fleisch fressend, Hilfe suchend usw. als „adjektivische Zusammensetzung“ auffassen, aber hier greift die Neuerung noch nicht. Bei Laub tragend und einigen anderen Zusammensetzungen wird die Zusammenschreibung „wegen der Selbständigkeit der Bestandteile“ abgewiesen – eine Begründung, die so nicht im amtlichen Regelwerk zu finden ist. Schmutz abweisend, Wasser abstoßend waren 1999 noch die allein zugelassene Schreibweise, jetzt ist auch die Zusammenschreibung wieder da. Man kann solche punktuellen Revisionen aber grundsätzlich nicht voraussehen.
Die amtliche Regelung schrieb vor: blutsaugend, Blut reinigend (wegen Blut saugen, aber das Blut reinigen). In den neuesten Fassungen der Wörterbücher ist diese Unterscheidung rückgängig gemacht, es heißt einheitlich: blutsaugend/Blut saugend, blutreinigend/Blut reinigend, blutstillend/Blut stillend. Mit einem ähnlichen Gewaltakt wird die Ungleichbehandlung von Kosten sparend und kostendeckend durchgesetzt (spart Kosten, aber deckt die Kosten). In beiden Fällen kann man jetzt zusammen- oder getrennt schreiben; damit ist § 36 ein weiteres Mal außer Kraft gesetzt. Seltsamerweise darf schmerzstillend nur getrennt geschrieben werden, obwohl die morphologische Ähnlichkeit mit blutstillend/Blut stillend doch auf der Hand liegt. Wie wird eigentlich schleimlösend jetzt geschrieben? Es scheint im Korpus nicht vorzukommen. Da sich für Gewinn bringend im amtlichen Wörterverzeichnis bereits die Variante gewinnbringend findet, versuchen die Wörterbuchautoren, ähnlich konservative Lösungen für zahlreiche andere Problemschreibungen zu finden. Konsequent sind sie dabei nicht. So darf man neuerdings nur noch Profit bringend schreiben, die Analogie zum gleichbedeutenden gewinnbringend scheint hier nicht zu wirken. Bei Unheil bringend ist neuerdings auch die herkömmliche Zusammenschreibung wieder zulässig, bei Heil bringend dagegen (noch) nicht. Das ist gewiß kein Dauerzustand.
Die vielen gewaltsamen Getrenntschreibungen wie Pflanzen schädigend (unter Fungizid), Pflanzen fressend (unter Herbivore), Funken sprühend usw. beruhen auf der Fehldeutung des Fugen-n als Pluralzeichen. Konsequenterweise hätte man allerdings auch bakterienvernichtend bzw. -tötend getrennt schreiben müssen (unter Bakteriophage usw.). zufriedenstellend darf – wie im neuen Duden – erst zusammengeschrieben werden, wenn es tatsächlich gesteigert ist, und nicht weil es gesteigert werden kann, wie das Kriterium sonst lautet. Wir haben also Komparativ und Superlativ ohne zugehörigen Positiv – eine grammatische Abnormität. Die Getrenntschreibung von viel bewundert wird mit Sätzen wie Man bewundert die Schauspielerin viel begründet, aber das scheint etwas ungelenkes Deutsch zu sein. Interessant wäre eine vergleichbare Begründung für viel geliebt; doch leider fehlt dieses Stichwort. Zusammenschreibung soll eintreten „aufgrund einer festen Bedeutung“: vielsagend usw. – aber dieses der amtlichen Regelung fremde Kriterium würde, ernst genommen, zur Wiederherstellung vieler anderer Wörter führen: allgemeinbildend, sogenannt usw.
lahm legen soll nur noch getrennt geschrieben werden, weil man lahm erweitern könne: Der Verkehr war für Stunden (ganz/vollständig) lahm gelegt. Hier ist jedoch zu bezweifeln, daß sich die Intensivierung nur auf das Adjektiv bezieht; man kann es ja nicht allein erfragen: Wie lahm war der Verkehr gelegt? Man vergleiche auch das nach wie vor zusammengeschriebene sichergehen, bei dem die Modifizierbarkeit des Adjektivs viel eher in Betracht kommt: ganz sicher gehen. Bei warmhalten ist jetzt Getrennt- oder Zusammenschreibung möglich, unabhängig von der Bedeutung. Diese Variantenfreudigkeit widerspricht allerdings sowohl dem amtlichen Wörterverzeichnis, das nur Getrenntschreibung kennt, als auch – bei übertragenem Gebrauch – dem Kriterium der Steigerbarkeit mit der Folge der Zusammenschreibung. glattbrennen (unter gasieren) muß wahrscheinlich jetzt getrennt geschrieben werden; vgl. die Einträge unter glatt. Bei wehtun soll der erste Bestandteil seine „substantivischen Merkmale“ eingebüßt haben; in Wirklichkeit haben sie nie existiert. Falsch ist auch nach wie vor die Annahme, wettmachen oder irrewerden liege ein „verblasstes Substantiv“ zugrunde. wach bleiben soll getrennt geschrieben werden, weil das Adjektiv steigerbar oder erweiterbar ist, und als solche „Erweiterung“ wird angeboten: Gisela wollte noch lange wach bleiben. Ist das ernst gemeint?
In der ersten Auflage wurde nichtssagend durch nichts sagend ersetzt, vielsagend blieb unverändert; nach der zweiten Auflage von 1999 konnten beide Wörter getrennt oder zusammengeschrieben werden; die Neubearbeitung läßt nur für nichtssagend fakultativ Getrenntschreibung zu, für vielsagend nicht mehr. Leider fehlt das Stichwort wohlriechend, so daß man nicht erkennen kann, ob Bertelsmann ebenso wie Duden dieses Wort anders behandelt als das genauso gebildete wohlschmeckend, dem hier immerhin ein nur getrennt geschriebenes übel riechend gegenübersteht. Zwar wird unter einigen Stichwörtern (wie Benzoe, Diptam) von der Zusammenschreibung wohlriechend Gebrauch gemacht; man weiß nur nicht, ob es die einzige zulässige Schreibweise sein soll. Es heißt wieder und wieder: „Die Folge aus Adjektiv und Verb wird getrennt geschrieben.“ Daher quer gestreift usw. Aber warum wird dann großschreiben neuerdings zusammengeschrieben?
Gegenüber der vorigen Auflage ist zwar der monströse Satz Das Unternehmen war Gefahr bringend gestrichen, aber das Wörterbuch bietet immer noch Beispielsätze wie Das Haus ist seit langem leer stehend an. In der Bertelsmann-Grammatik (ebenfalls von Lutz Götze) kann man nachlesen, daß das Partizip I nicht prädikativ verwendet wird.
Im Widerspruch zum eigentlichen Programm der Reform gibt es viele Einträge, die feine Bedeutungsunterschiede durch die Schreibweise zum Ausdruck bringen. mobilmachen darf nur im fachlichen (militärischen) Sinn geschrieben werden, sonst mobil machen. Die „fachsprachliche“ Rechtfertigung wünschenswerter Zusammenschreibungen wie rotglühend könnte man sich bei vielen weiteren Ausdrücken vorstellen und darf sie für die nächsten Ausgaben auch erwarten. Einstweilen muß man noch von Fall zu Fall nachschlagen, wie in alten Dudenzeiten. Zu doppeltkohlensauer ist in der Neuausgabe die Getrenntschreibung doppelt kohlensauer hinzugekommen; fachsprachlich gelte jedoch nur Zusammenschreibung. Aber wann wird ein solches Wort überhaupt nicht-fachsprachlich verwendet? Wörter, die auf -ig, -isch oder -lich enden, sollen laut Reform nicht als Erstglieder von Zusammensetzungen und Zusammenschreibungen gelten, daher heilig sprechen, fertig stellen, gelblich grün usw. - aber selbst diese so eindeutige wie sprachwidrige Regel hat eine überraschende Ausnahme: richtiggehend. Leider enthält sich das Wörterbuch hier jeder Erklärung.
Die wenig einleuchtenden Einzelentscheidungen stellen für Schüler und Erwachsene ein großes Lernproblem dar. Wer kann sich schon merken, daß man schief gewickelt, schief gegangen, aber schiefgelacht schreiben muß? Es soll heißen voll gegessen, aber vollgefressen, voll besetzt, aber vollklimatisiert usw. Dasselbe Durcheinander findet man bei wohl: wohlerzogen, wohl bedacht, wohlgeformt oder wohl geformt; wohlgeraten, wohl geordnet, wohlgeübt oder wohl geübt.
Bei den Verbzusatzkonstruktionen mit wieder- haben sich die verschiedenen Deutungen des Regelwerks am schnellsten geändert, und noch jetzt unterscheiden sich Duden und Bertelsmann trotz exklusiver Beratung durch die Rechtschreibkommission erheblich. Duden läßt grundsätzlich viel mehr Varianten zu. Beide Wörterbücher sind hier sehr unvollständig, so daß man nicht weiß, wie etwa nach dem neuen Wahrig wiedereinrichten, wiedereinrenken usw. geschrieben werden. Nicht angeführt ist auch wiedereinbürgern; da es jedoch unter repatriieren getrennt geschrieben wird, muß man wohl annehmen, daß dies die neue Schreibung sein soll. Sicher ist das jedoch nicht, denn wie wir sehen werden, befolgt das Wörterbuch keineswegs immer seine eigenen Vorschriften. Während die amtliche Neuregelung ausdrücklich nur nochmal zuläßt (§ 55, 4), hatte Bertelsmann 1999 gerade umgekehrt noch mal als Neuschreibung gekennzeichnet; die Neubearbeitung läßt, ebenso willkürlich, beides zu.
Die vielen Bandwurmwörter, bei denen das Wörterbuch „wegen der besseren Lesbarkeit“ immer wieder den Bindestrich empfiehlt, sind kein Gewinn: Openenddiskussion, Multiplechoiceverfahren usw.
Groß- und Kleinschreibung
Die graue Eminenz soll weiterhin klein geschrieben werden, aber im Kasten wenige Zeilen darüber heißt es ausdrücklich: „In Eigennamen wird grau großgeschrieben: die Graue Eminenz.“ Nicht einzusehen ist auch, warum Letzte Ölung als Eigenname angesehen wird; es scheint sich um eine nachgereichte Begründung für die von Minister Zehetmair (im Sinne der katholischen Kirche) durchgesetzte Großschreibung zu handeln. Der Zweite Weltkrieg ist laut Reform kein Eigenname, wird aber dennoch groß geschrieben. Bei Jus ad rem, Jus gentium usw. müßten gemäß der Neuregelung die lateinischen Substantive groß geschrieben werden, ebenso in Hercynia silva.
Der folgende Eintrag ist sinnentstellend formuliert:
„In der Fügung mit heute kann früh als Adverb gesehen werden. Deshalb gilt neben der Kleinschreibung auch die Großschreibung: heute früh/Früh.“
Es müßte heißen: „... neben der Großschreibung auch die Kleinschreibung“.
Ganz im Sinne der amtlichen Regeln werden feind und freund (jemandem feind sein) gar nicht verstanden, sondern als Substantive gedeutet, folglich groß geschrieben. Nur so erklärt sich wohl auch die seltsame Auskunft, das Wort Todfeind sei „veraltet“. Den „Spinnefeind“ hat man ja schon vor Jahren wieder zurückgenommen; aber es ergibt sich nun die einigermaßen absurde Reihe: jemandem Feind sein/Todfeind sein/spinnefeind sein. Auch die Großschreibung in Eile ist Not beruht auf Unkenntnis grammatischer Tatsachen und sollte endlich zurückgenommen werden.
Fehler und Problemfälle
Im Kasten zu selbständig steht nach wie vor:
„selbständig/selbstständig: Die richtige Schreibweise lautet selbstständig, die alte Schreibung mit Tilgung des zweiten -st- bleibt aber weiterhin zulässig.“
Damit werden die wirklichen Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Interessanter ist aber folgendes: Im Text des Wörterbuchs waren bisher alle Vorkommen von selbständig durch selbstständig ersetzt; in der Neuausgabe sind sie alle wiederhergestellt – obwohl es nach Meinung der Redaktion nicht die „richtige Schreibweise“ ist!
Der Verweis auf Hexameron endet blind. hin bedeutet keineswegs „vom Sprecher weg“ – aber diesen Fehler begehen fast alle Wörterbücher. Die Einträge zum Hohen Lied und Hohen Priester sind unzulänglich, wie bisher. Auf meinen Einwand, der Duden verzeichne zu Unrecht die Neuschreibung Messmer, antwortet die Rechtschreibkommission in ihrem dritten Bericht:
„Als regelwidrig wird [sc. von Th. I.] die Aufnahme der Schreibung Messmer bezeichnet. Eine Übertragung von Schreibungen, die im Regelwerk vorgegeben sind, auf analoge, jedoch nicht amtlich zu regelnde Fälle (Regionalismen), ist den Wörterbüchern überlassen. Begründung: Das amtliche Wörterverzeichnis enthält Messner, Mesner und (als Helvetismus) Mesmer. Der Duden gibt analog zu hochsprachlich Messner auch die Form Messmer für den schweizerischen Regionalismus Mesmer an. Diese Schreibung ist mit dem schweizerischen Dudenausschuss abgesprochen worden.“
Nun, Bertelsmann scheint von einer solchen Absprache nichts zu wissen, Messmer fehlt.
Die Ausdrucksweise läßt manchmal zu wünschen übrig. Ein Detacheur soll ein „Fachmann zum (!) Fleckenentfernen“ sein. Zu korrigieren sind weiterhin: „Zwang zu häufigem, tropfenweisen (!) Wasserlassen“ (unter Harnzwang); „aus einem bedeutungsverstärkendem (!) ersten Bestandteil“ (im Kasten zu hellgelb). Unter Horsd'œuvre (Kasten S. 743) ist die Grammatik durcheinandergeraten. Unter im Obigen und an einigen anderen Stellen behauptet das Wörterbuch:
„Im Gegensatz zur bisherigen Schreibweise werden substantivierte Adjektive großgeschrieben.“
Auch nach der bisherigen Schreibweise wurden substantivierte Adjektive groß geschrieben, man unterschied jedoch einen pronominalen Gebrauch, der Kleinschreibung zur Folge hatte.
Pidgin Englisch ist nicht die bisherige Schreibweise (sondern mit Bindestrich; neu ist Pidginenglisch). Die Quarks der Kernphysik kommen keineswegs nur im Singular vor. Punctum saliens ist nicht maskulin. Im Kasten zu sobald wird erklärt, daß alle diese weiterhin zusammengeschriebenen Konjunktionen auf der letzten Silbe betont seien. Das wird aber schon durch das ebendort angeführte solange widerlegt, später auch durch sowenig. ernstnehmen ist nicht die alte Schreibweise. Scharm und scharmant sind nicht neu. Ein Zinkenist ist ein Zinkenbläser, aber wieso in der „Schreinerei“?
Unter Komma und zerbröckeln fehlt ein Spatium, ebenso S. 61 bei einem der beiden schlechtgehen, zwischen denen man wählen darf. Unter Potenzial gibt es eine falsche Trennung: Varia-nte (dasselbe schon in der Einleitung S. 32). puppillarisch gibt es nicht, nur pupillarisch. In Sphymograf fehlt ein Buchstabe (Sphygmograf), bei der Okispitze (unter Schiffchenarbeit) ebenfalls: Okki (statt des bekannteren Occhi). Unter § 13 der Regeln hat sich Grundforr (statt Grundform) eingeschlichen, wie bei einem schlechten Scanner. Unter Rimskij-Korsakow ist zu viel kursiviert, auf S. 512 zu wenig. Die Tabelle S. 82 ist zerrüttet (und von seiten ist gerade nicht die neue Schreibweise). Zwischen leid pleite fehlt ein Schrägstrich (S. 84). Die freistehenden Zeilen (S. 98) müßten laut Wörterverzeichnis getrennt geschrieben werden, statt dessen (S. 100) aber zusammen, und so war es auch in der vorigen Auflage. Die Viola da Gamba soll sechs Seiten haben. Schon die vorige Auflage hatte sich wiedersetzen (unter quer). Unter fiebersenkend steht ein das Fieber senkende (statt senkendes) Mittel. Bei Herpes zoster (unter Gürtelrose) müßte auch Zoster groß geschrieben werden, da es ein griechisches Substantiv ist. Unter Bahai wird auf Bahaismus verwiesen, dies fehlt jedoch. Das Besondere ist nicht die Substantivierung des Adverbs besonders, sondern des Adjektivs besondere. Ganz im Sinne der amtlichen Neuregelung wird bahnbrechend als „sich eine Bahn brechend“ gedeutet; es bedeutet jedoch „einem anderen Bahn brechen“ und müßte daher eigentlich Bahn brechend geschrieben werden. Zu salzen gibt es nicht nur das Partizip gesalzen, sondern auch gesalzt, besonders wenn es sich um Straßen handelt.
Nicht immer befolgt das Wörterbuch seine eigenen Vorschriften: Schmelzfluß (unter pyrogen), wiedereinsetzen (unter rehabilitieren). Im Kasten zu rein halten steht regelwidriges aufeinanderfolgende. (Wäsche darf man übrigens nur rein waschen, sich selbst von einem Verdacht nur reinwaschen, genau wie vor der Reform.) Das Wörterbuch schreibt wieder beschaffen (unter reproduzieren), bereit halten (unter Reserve), frei halten (unter reservieren), zum zweitenmal (unuter remontieren); in allen diesen Fällen ist unter den Stichwörtern selbst etwas anderes vorgeschrieben.
Äußerst verwirrend sind die Auskünfte zu mal. Es heißt diesmal, dutzendmal, einmal, keinmal, weil „Wortart, Wortform oder Bedeutung der einzelnen Bestandteile nicht mehr erkennbar sind“ (!). Andererseits soll man „bei besonderer Betonung“ getrennt schreiben und substantivieren – aber wie kann man etwas besonders betonen und substantivieren, wenn man es nicht mehr erkennt? Außerdem fehlt an dieser Stelle (eine ganze Spalte lang) jeder Hinweis auf die amtliche Beseitigung des überaus häufigen Wortes jedesmal. Nur unter jeder findet man die obligatorische Neuschreibung jedes Mal.
Im Vorwort zur ersten Auflage benutzt der Reformer Klaus Heller die Nebenvariante Orthografie, und man fragt sich, wozu die Reformer überhaupt eine „Variantenführung“ entworfen haben, wenn sie sich dann im eigenen Gebrauch nicht an die Vorzugsvariante halten. Das Wörterbuch macht diese Inkonsequenz nicht mit. Wie schon in früheren Auflagen wird eine Präposition umwillen gelehrt, die wohl eher heideggerisch als standardsprachlich sein dürfte: Er tat das umwillen seiner Kinder. (So nur unter willen, nicht als eigener Eintrag!)
Die Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung mutiert in der Titelei des vorliegenden Werkes zur „Internationalen“. Ein netter menschlicher Zug soll nicht unerwähnt bleiben: Die Redaktion hat ihrer Leiterin, Dr. Sabine Krome, ein kleines Denkmal gesetzt. Unter Synesis lautet das Beispiel die Fräulein Krome (bisher: Müller, so auch noch unter Fräulein).
Abschließende Bemerkung
Im Januar 2002 kündigte der Bertelsmann-Verlag für den Herbst ein „komplett neu entwickeltes Werk“ an, das den Titel „Wahrig. Universalwörterbuch Rechtschreibung“ tragen soll. Nicht nur aus diesem Grunde hat das vorliegende Wörterbuch den Charakter eines Übergangsproduktes: Anfang Mai erklärte der Vorsitzende der Rechtschreibkommission, das Schwarze Brett könne zum Zwecke der Hervorhebung weiterhin groß geschrieben werden, und die Erste Hilfe sei fachsprachlich und daher von der Reform ohnehin nicht betroffen. Von dieser überraschenden „Klarstellung“ acht Jahre nach den abschließenden Wiener Gesprächen hatte bisher niemand eine Ahnung, und auch das neue Wörterbuch weiß noch nichts davon. Wie viele Wörter tatsächlich betroffen sind, läßt sich ebenfalls noch nicht absehen.
Die gegenwärtige Lage ist nicht zuletzt deshalb so unübersichtlich, weil die Reformbetreiber die Unklarheit der neuen Regeln und die Widersprüche zwischen dem amtlichen Regelwerk und dem dazugehörigen Wörterverzeichnis ausnutzen, um jeder Kritik von Fall zu Fall den Boden zu entziehen. Die reguläre Substantivierung von Dienst habend, Arbeit suchend, allein erziehend, lebend gebärend, besser gestellt und hundert ähnlichen Ausdrücken ist der Dienst Habende, die allein Erziehenden, die besser Gestellten usw. Im amtlichen Wörterverzeichnis finden sich kommentarlos einige wenige Ausnahmen wie Ratsuchende, Alleinstehende, und daraus werden neuerdings eine große Zahl bisheriger Zusammenschreibungen abgeleitet, denen zwar noch keine entsprechend zusammengesetzten Adjektive (diensthabend, alleinstehend) gegenüberstehen – aber wer weiß? Im dritten Bericht der Rechtschreibkommission wird deren Wiederherstellung bereits erwogen. Ist eine Regel ausnahmsweise ganz eindeutig formuliert wie das Verbot von Zusammensetzungen mit Adjektiven auf -ig, -lich und -isch, so findet sich im Wörterverzeichnis die singuläre Ausnahme richtiggehend, aus der nach Bedarf weitere Ausnahmen analogisch abgeleitet werden können, bis zur faktischen Aufhebung der Regel. Andere „Altschreibungen“ werden unter dem Deckmantel der Fachsprachlichkeit wiederzugelassen. Außerdem macht die Kommission sich die Argumente der Kritiker zu eigen und führt Kriterien wie die Betonung, festgewordene Bedeutungen oder Beschränkungen des prädikativen Gebrauchs ein, die der Neuregelung an sich ganz unbekannt sind. All dies geschieht aber unsystematisch und ist bisher offiziell noch nicht immer über das Stadium des bloßen Erwägens hinausgekommen. Daher kann niemand mit Bestimmtheit sagen, was zur Zeit gilt, und noch viel weniger, was in einigen Monaten gelten wird. Entgegen dem ersten Eindruck scheint der Gipfel der Rechtschreibverwirrung auch mit diesem Wörterbuch noch lange nicht erreicht.
Bei aller Genugtuung über den fortschreitenden Rückbau muß man doch die Schüler und auch die Lehrer bedauern, denen auf absehbare Zeit die sichere Grundlage für einen ordnungsgemäßen Rechtschreibunterricht vorenthalten wird.
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Kommentare zu »Wahrig 2002« |
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Kommentar von Kurt Albert, verfaßt am 14.06.2009 um 19.01 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1173#14621
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Wahrig, computergestützt
Die vorgebliche Stützung der Stichwortauswahl durch computerlinguistische Verfahren ist tatsächlich (dies konnte ich anhand vieler Proben beim Nachschlagen im "Wahrig" feststellen) nicht ersichtlich und spürbar, und man muß zu dem Schluß kommen, daß die Konkurrenz, also die Duden-Redaktion, da über effektivere Mittel verfügt und den gegenwärtigen Wortschatz besser nachzeichnet, neue Rechtschreibung hin oder her.
Ickler (siehe die Vorbemerkung zu diesem Tagebucheintrag) hat auch in diesem Punkt ganz recht.
Mal sehen, wie sich der jetzt angekündigte Cornelsen-Wahrig (der wie in den letzten Jahren der Mannheim-Duden marktschreierisch mit der Aufnahme einiger gegenwartstypischer Neologismen aufwartet) ausnimmt.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 30.04.2016 um 17.12 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1173#32458
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Ich hatte hier und anderswo darauf hingewiesen, daß bei Wahrig und Duden zwar Clara Zetkin und andere sozialistische Größen eingetragen sind, nicht aber z. B. Ludwig Erhard, der denn auch oft falsch geschrieben wird. So jetzt auch im Grundsatzprogramm der AfD (Ehrhard).
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 19.11.2019 um 12.09 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1173#42430
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Bertelsmann hat ja vor rund 11 Jahren mal versucht, mit einem aus Wikipedia-Artikeln zusammengeklebten dickleibigen Lexikon Geld zu machen. Die Leitung hatte besagte Frau Varnhorn, heute Programmdirektorin bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Ein widersinniges Unterfangen, weil kein vernünftiger Mensch gedruckt und veraltet lesen will, was er kostenlos online und aktuell lesen kann. Der Band ist noch für 2,40 € zu erwerben.
Ich erinnere mich schwach, daß Frau Varnhorn mir bei irgendeiner Gelegenheit (Mannheimer Anhörung?) mit rechtlichen Schritten drohte, weil ich die Bertelsmannprodukte so streng kritisiert hatte.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 11.12.2019 um 04.07 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1173#42571
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In meiner Besprechung "Lücken und Leichen" hatte ich erstmals gezeigt, daß die Berufung der Bertelsmann-Wörterbücher auf ein elektronisches Korpus eine ganz windige Sache ist. Das hat sich bei allen folgenden Wörterbüchern bestätigt. Heute wird der ganze Rat für deutsche Rechtschreibung durch die Beschäftigung mit derselben höchst fragwürdigen Saarbrücker Sprachtechnologie in Atem gehalten, dank Frau Krome, die ihn immer mehr beherrschte, bevor sie bei Bertelsmann ausschied und beim IDS als neue Geschäftsführerin des Rates anheuerte.
Es bleibt abzuwarten, ob das absurde Unternehmen einer "Sprachbeobachtung" durch Analyse dieses offensichtlich unbrauchbaren Korpus sich trotz der Veränderungen fortsetzt.
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 23.01.2020 um 05.07 Uhr
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1173#42808
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Ich habe viele Wörterbücher von A bis Z durchgelesen, was von Journalisten manchmal als Spleen belächelt wurde. Ich habe sogar mein eigenes Wörterbuch gelesen. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Wenn ich meine Rezensionen (z. B. oben zu Götzes Wahrig) noch einmal durchlese, kommt mir immer wieder der Gedanke: Warum lesen die Verfasser und Bearbeiter ihre Wörterbücher nicht wenigstens einmal ganz durch? Und dabei beschäftigt sich doch eine ganze Redaktion damit, während ich meins ganz allein gemacht und nicht einmal ein zweites Augenpaar damit beschäftigt habe? Aber vielleicht ist gerade das der Grund, warum so grottenschlechte Machwerke auf den Markt kommen.
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