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Theodor Icklers Sprachtagebuch

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06.04.2009
 

Leo Weisgerber
Der Großvater der Rechtschreibreform wird bei Wikipedia ganz falsch dargestellt

Und zwar in so skandalöser Weise, daß ich noch nichts Vergleichbares gesehen habe.
Zum Glück hat das keltologische Institut seiner Heimatuniversität Bonn dies auch bemerkt und stellt es richtig:

»Der zweite Bonner Keltologe dieser Zeit war Leo Weisgerber (1899–1985), der 1923 bei Thurneysen mit einer Arbeit über Die Handschriften des Peredur ab Efrawc in ihrer Bedeutung für die kymrische Sprach- und Literaturgeschichte (cf. ZCP 15, 1925) promoviert wurde.
1924 habilitierte er sich in Bonn mit der Schrift Sprache als gesellschaftliche Erkenntnisform (unpubliziert).
Er gilt als Begründer der „inhaltsbezogenen Sprachwissenschaft“ respektive des „Neohumboldtianismus“.
Während Weisgerbers Verdienste im Bereich der Sprachwissenschaft heute unbestritten sind, wird andererseits seine Rolle als Mittäter der nationalsozialistischen Politik häufig heruntergespielt (so der derzeitige Wikipedia-Artikel, der Weisgerber implizit in die Nähe katholischer Widerständler bringt). Das betrifft sowohl seine ideologische Betreuung von „keltischsprachigen“ Kriegsgefangenen in Bad Orb im Jahr 1940 – die ideologische Umpolung von Kriegsgefangenen, die Minderheiten angehörten, war generell ein wichtiges Anliegen des SS-Ahnenerbes –, als auch seine Tätigkeit als Zensuroffizier in Rennes im Zweiten Weltkrieg. In den Jahren 1940 bis 1944 war Weisgerber im Funkhaus Rennes zuständig für die Sendungen in bretonischer Sprache. 1941 regte er die Gründung von „Framm Keltieg Breizh“ (,Keltisches Institut der Bretagne') an, dessen Präsident der bekannte und bis heute ebenfalls umstrittene bretonische Schriftsteller Roparz Hémon (†1978) wurde, der die ersten Sendungen in bretonischer Sprache überhaupt umsetzte. Für seine Kollaboration wurde er nach dem Krieg für zehn Jahre verbannt, ging nach Irland und arbeitete im Dublin Institute for Advanced Studies. Indem er im „Framm Keltieg Breizh“ alle kulturellen, wirtschaftlichen und nachrichtendienstlichen Aktivitäten bündelte, konnte Weisgerber die Kulturpolitik der Bretagne maßgeblich mitbestimmen und (im Auftrag des sog. Sicherheitsdienstes) überwachen. Dabei muß daran erinnert werden, daß die Zusammenarbeit der gegen Frankreich gerichteten bretonischen Widerstandsbewegung mit den Nationalsozialisten nicht nur im kulturellen, sondern auch im militärischen Bereich erfolgte. Ausdruck dessen ist, daß Weisgerber und weitere Keltologen nach der militärischen Niederlage der Nazis einem Mitglied der bretonischen SS-Miliz „Bezen Perrot“, geführt von Célestin Lainé, durch die Bereitstellung falscher Ausweispapiere die Flucht nach Irland ermöglichten.«

(www.keltologie.uni-bonn.de/inst_hist.html)


Über Weisgerbers Tätigkeit ist inzwischen genug bekannt, das braucht hier nicht wiederholt zu werden. Nachdem sein Sohn Bernhard Weisgerber, der – stramm links – ebenfalls zu den Betreibern der Rechtschreibreform gehört hatte, dann aber zur Erleichterung der anderen Mitglieder des Arbeitskreises ausgeschieden war – mich angegriffen hatte, kam es zu einem Briefwechsel, der mir u. a. eine gewisse Ahnungslosigkeit auf seiten meines Partners offenbarte. Ich darf vielleicht einen meiner beiden Briefe hier einrücken:


21.11.2000

Sehr geehrter Herr Weisgerber,

besten Dank für Ihren Brief vom 20. November (und für die kleine Aufmerksamkeit, ihn in herkömmlicher Orthographie abgefaßt zu haben!).
Ihre Fragen sind größtenteils in meinen Büchern „Die sogenannte Rechtschreibreform – ein Schildbürgerstreich“, „Kritischer Kommentar zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ (2. Aufl. 1999) sowie in „Regelungsgewalt: Hintergründe der Rechtschreibreform“, das zur Zeit im Druck ist, schon beantwortet. Dazu gibt es noch eine Reihe Aufsätze von mir. Ganz unbekannt ist mir die Reform also nicht.
Es ist Ihnen möglicherweise entgangen, daß die jetzige Reform wenig Ähnlichkeit mit derjenigen hat, die Sie wollten und die fast alle Reformer auch heute noch für die bessere halten. Für die Kleinschreibung haben sie sich einstimmig ausgesprochen, die Wüstersche Großschreibung galt nicht als Lösung.
Herr Munske, dem Sie ja die Kennerschaft nicht gänzlich werden absprechen wollen, spricht von einer „Überrumpelungsaktion“.

Was Ihren Vater betrifft, so halte ich ihn nicht für einen echten Nationalsozialisten, obwohl er am 17. Juli 1934 Parteimitglied wurde, sondern eher für opportunistisch – was man aus heutiger Sicht nicht zu streng verurteilen darf, aber beschönigen sollte man es auch nicht:
„Es ist eine der dringendsten Aufgaben, daß der Rassegedanke und der Sprachgedanke zu einer fruchtbaren Begegnung gebracht werden, daß beide Seiten ihren Ehrgeiz nicht in gegenseitiger Bekämpfung sehen, sondern in dem Aufzeigen der volkhaften Bedeutung der beiden Tatbestände und in dem Wecken der Kräfte, die aus jedem von ihnen für den Aufbau unseres Volkes zu gewinnen sind.“
„Es geht nicht an, die bloße Teilnahme an der gleichen Sprache als ausreichend für Volksein anzusehen. [...] Schon für das Denken um 1800 steht fest, daß Volk wesentlich Volkwerden ist. Erst recht gilt für uns heute, daß Volksein als immer neue Aufgabe gestellt ist, und daß jeder, der in diesem Bemühen erlahmt, abstirbt für das Volk. [...] Man denke nur daran, daß die Eingliederung des Menschen in seine Sprachgemeinschaft sich bereits in einem Alter vollzieht, in dem noch keine Auslese möglich ist, zumal die Werte jedes Menschen erst erkennbar werden, wenn die Sprachgemeinschaft die Möglichkeit zu ihrer Entfaltung geschaffen hat. Soll man die Unbrauchbaren, die hier sicherlich in die Sprachgemeinschaft hineinkommen, nun auch bereits als Volksglieder anerkennen?“ usw.
Aus: Leo Weisgerber: „Sprachgemeinschaft und Volksgemeinschaft und die Bildungsaufgabe unserer Zeit“, in: Zeitschrift für deutsche Bildung 10 (1934), S. 289–303 (Vortrag in Berlin, Feb. 1934)

Näheres später einmal, da ich schon lange vorhabe, die Kernpunkte von L. Weisgerbers Lehre auf ihre Implikationen hin zu untersuchen. Besonders hat mich seit Jahrzehnten beunruhigt, wie er aus der Trivialität, daß jeder Mensch die Sprache seiner Umgebung lernt, ein „Menschheitsgesetz“ konstruiert und daraus dann wieder die weitreichendsten Aufgaben und Pflichten abgeleitet hat; logisch völlig haltlos, aber sehr schlagkräftig im Sinne der Gemeinschaftsbildung (um es einmal so harmlos auszudrücken).
Was seine Schrift „Verantwortung usw.“ betrifft, so fällt ja gerade auf, daß er entgegen seinem Vorsatz nicht 60 Jahre Bemühungen um die Reform darstellt, sondern nur 48. Noch 1980 beginnt er seinen kleinen Beitrag im „Sprachdienst“ so:
„Als nach dem Zusammenbruch von 1945 in wohl allen Lebensbereichen Reformwünsche laut wurden, machten sich auch die Ungereimtheiten und schwachen Stellen der deutschen Schreibweise rasch bemerkbar“ usw. – Man könnte meinen, in der Stunde Null seien plötzlich Reformgedanken vom Himmel gefallen. L. Weisgerber wußte aber ganz genau, daß die Reformgedanken gerade zu einem schnellen Ende gekommen waren. Aber bei Zabel usw., sogar auf der Internetseite des Dudenverlags liest man es genauso. Vgl. dagegen das neue Buch von Birken-Bertsch und Markner, das der Geschichtsklitterung ein Ende setzt.
Alle Reformer fühlen sich dauernd verunglimpft, besonders Herr Augst kann das unnachahmlich vorspielen. Mit der Zeit wird es aber langweilig.
Falls Sie mir noch einmal schreiben wollen, bitte ich Sie, Ihren Ton zu mäßigen.

Mit den besten Wünschen
Theodor Ickler



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Kommentare zu »Leo Weisgerber«
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Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 17.04.2018 um 06.41 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1136#38513

Bei Leo Weisgerber nimmt das Linguistische Relativitätsprinzip gewalttätige Züge an. Er lehrt nicht nur, daß jeder Mensch zwangsläufig das Weltbild seiner Muttersprache übernehme, sondern erklärt es zur Aufgabe des Erwachsenen und des Sprachlehrers, diese Übernahme beim Kind und beim Heranwachsenden zu fördern und gegen Gefährdungen zu „sichern“ (dies ist eines der Leitwörter). Solche Gefahren beschwört Weisgerber immer wieder herauf: „Der Prozeß des Wortens der Welt kann nicht abreißen, wenn nicht das gemeinsam-geschichtliche Leben in seinen Grundlagen zerstört werden soll.“ (Die Ordnung der Sprache im persönlichen und öffentlichen Leben. Köln, Opladen 1954:13) Vereinzelung und Entwurzelung drohen; vor allem durch Hochsprachen, Schriftsprachen, Fremdsprachen wird die muttersprachliche Ausbildung gefährdet. „Wie läßt sich diese Bedrohung abwenden?“ (Ebd. 19)
Viel konkreter wird Weisgerber nicht, es bleibt bei einer dumpfen Ahnung von Unheil. Überhaupt muß man sagen, daß die zahlreichen sprachideologischen Schriften sehr wenig Konkretes und kaum Beispiele enthalten, mit denen die These vom muttersprachlichen Weltbild belegt und veranschaulicht würde.

Der deskriptive Teil wird etwa so dargestellt: „Hineinwachsen in die Muttersprache, das ist im Kerne ein Nachbilden des muttersprachlichen Weltbildes im Bewußtsein des Einzelnen.“ (Das Tor zur Muttersprache, 30) „Die Muttersprache umfaßt in ihrem inhaltlichen Aufbau tatsächlich die Welt von Begriffen und Denkformen, mit deren Hilfe die Angehörigen dieser Sprache ihre Lebenswelt geistig durchschauen und beherrschen lernen.“ (Ebd. 46) Der Übergang zum Normativen geschieht wie selbstverständlich: „Der Ausbau des muttersprachlichen Weltbildes beim Kinde ist das Kernstück muttersprachlicher Erziehung.“ (Ebd. 50)

Weisgerber glaubt ein „Gesetz der Muttersprache“ entdeckt zu haben:

„(Das Gesetz der Muttersprache) beschließt in sich eine räumlich und zeitlich lückenlose Gliederung der gesamten Menschheit in Sprachgemeinschaften. Der Sinn dieser unverbrüchlichen Ordnung ist darin zu sehen, daß unter allen Umständen das Bestehen von geschichtlich handlungsfähigen Menschengruppen gesichert sein soll, und daß jeder einzelne Mensch jenseits von Zufall und Willkür einer dieser Gruppen eingegliedert ist.“ (Das Tor zur Muttersprache. Düsseldorf 1957:94)
„Halten wir zunächst nur als Erfahrungstatsache fest, daß die Menschheit sich lückenlos und in nie unterbrochenem Zusammenhang in Sprachgemeinschaften gliedert, und daß diese Gliederung in Sprachgemeinschaften mit einer Unverbrüchlichkeit wirksam ist, die von keiner anderen Ordnung des geschichtlichen Lebens erreicht wird.“ (Die Ordnung der Sprache im persönlichen und öffentlichen Leben. Köln, Opladen 1954:8)

Natürlich lernt jeder Mensch die Sprache seiner Umgebung, und diese Umgebungen, also Sprachgemeinschaften, schließen „lückenlos“ aneinander, weil niemand sprachlos ausgelassen wird; etwas anderes kann man sich gar nicht vorstellen. Weisgerbers Entdeckung ist eine Banalität. Das hindert ihn aber nicht daran, ihr einen Zweck zu unterstellen:

„Die Gewalt, mit der das Gesetz der Muttersprache jeden Menschen erfaßt, wäre nicht zu verstehen, wenn damit nur erreicht werden sollte, daß nachher die einzelnen Menschen möglichst gut plappern können. Nein, wenn schon jeder Mensch unerbittlich in seiner frühesten Kindheit zu dem Hineinwachsen in das muttersprachliche Weltbild geführt wird, dann primär deshalb, weil ihm dadurch sein geistiger Standort angewiesen wird, von dem aus er nicht mehr in Vereinzelung des Individuums, sondern mit der Kraft und Verantwortung einer geschichtlichen Persönlichkeit innerhalb eines Ganzen wirken kann. Und alle diese aus dem Darinstehen in einer Sprachgemeinschaft erwachsenden Möglichkeiten, Aufgabe und Pflichten machen die ,durch die Sprache erreichbaren Zwecke‘ aus, und auf ihre sinngemäßeste Förderung ist die Schulung des sprachlichen Könnens gerichtet.“ (Ebd. 56)
„In den Wortfeldern für die Bereiche des Geistigen liegt die Hauptaufgabe muttersprachlicher Bildung und Erziehung, weil hier das Erfassen der Sachverhalte am stärksten vom inhaltlichen Bewältigen der Sprachmittel abhängt, und weil angesichts des Fehlens einer anderen Überprüfungsmöglichkeit nur ein möglichst enger Anschluß an die Muttersprache dafür bürgt, daß unser Weltbild in diesen Teilen dem für unsere Sprachgemeinschaft geltenden entspricht.“ (Die volkhaften Kräfte 32f.) (...) „Das Wichtigste ist, daß die syntaktischen Inhalte in dem Umfang und der Vollständigkeit im Schüler aufgebaut werden, daß sie diesen muttersprachlichen Denkformen das richtige Funktionieren sichern.“ (44) (...) „Die Kernaufgabe bleibt für jeden Menschen, die Denkwelt der Muttersprache in sich selbst nach besten Kräften wirksam werden zu lassen.“ (67)
Die „größte geistige Aufgabe“ für jeden Menschen „ist, diese Sprache möglichst vollkommen zu lernen und sein eigenes sprachliches Tun aus dem muttersprachlichen Besitz, den er übernommen hat, zu gestalten.“ (Die Ordnung der Sprache im persönlichen und öffentlichen Leben. Köln, Opladen 1954:13)
Weisgerber hatte ebenso wie Georg Schmidt-Rohr das Problem, sprachliche und rassische Determination zu versöhnen, um nicht mit der Nazi-Ideologie in Konflikt zu geraten. Beide Katholiken haben sich nicht antisemitisch geäußert; Schmidt-Rohr kritisierte ausdrücklich den Antiklerikalismus (Maas). Weisgerber führt aus:
„Es ist eine der dringendsten Aufgaben, daß der Rassegedanke und der Sprachgedanke zu einer fruchtbaren Begegnung gebracht werden, daß beide Seiten ihren Ehrgeiz nicht in gegenseitiger Bekämpfung sehen, sondern in dem Aufzeigen der volkhaften Bedeutung der beiden Tatbestände und in dem Wecken der Kräfte, die aus jedem von ihnen für den Aufbau unseres Volkes zu gewinnen sind.“ („Sprachgemeinschaft und Volksgemeinschaft und die Bildungsaufgabe unserer Zeit“, in: Zeitschrift für deutsche Bildung 10 (1934), S. 289–303 (Vortrag in Berlin, Feb. 1934); S. 293)
„Es geht nicht an, die bloße Teilnahme an der gleichen Sprache als ausreichend für Volksein anzusehen. [...] Schon für das Denken um 1800 steht fest, daß Volk wesentlich Volkwerden ist. Erst recht gilt für uns heute, daß Volksein als immer neue Aufgabe gestellt ist, und daß jeder, der in diesem Bemühen erlahmt, abstirbt für das Volk. [...] Man denke nur daran, daß die Eingliederung des Menschen in seine Sprachgemeinschaft sich bereits in einem Alter vollzieht, in dem noch keine Auslese möglich ist, zumal die Werte jedes Menschen erst erkennbar werden, wenn die Sprachgemeinschaft die Möglichkeit zu ihrer Entfaltung geschaffen hat. Soll man die Unbrauchbaren, die hier sicherlich in die Sprachgemeinschaft hineinkommen, nun auch bereits als Volksglieder anerkennen?“ (ebd. S. 297)
In einem gewissen Widerspruch zur These von der Macht der Muttersprache steht seine Befürwortung von Eingriffen in diese Sprache, um sie in den Dienst einer bestimmten Ideologie zu stellen und zu ertüchtigen:

„Wir wissen heute alle, daß das romantische Bild von der ihrem eigenen Wachstum folgenden, dem menschlichen Zugriff unerreichbaren Sprache richtig zu verstehen ist. [...] Aber wir können auch nicht übersehen, daß an vielen Stellen des Sprachlebens der Einzelne eingreift, daß bewußt und mit Absicht an kleinen und an großen Dingen unserer Muttersprache gearbeitet wird, und daß jede erhöhte äußere Bedeutung unserer Sprache zu stärkerer Betätigung dieser Art zwingt. Und hier hat neben dem Sprachschöpfer, dem Dichter und Künder, der Sprachkundige, der Gelehrte seine Aufgabe. [...] um der Muttersprache immer mehr zur bestmöglichen Ausgestaltung zu verhelfen. Gelingt es uns, die besten Vorbedingungen zu schaffen, um unserer Sprache die Erfüllung der ihr obliegenden Leistungen zu ermöglichen, dann wird unsere Muttersprache auch der neuen großen Aufgabe gerecht werden, die ihr in unseren Tagen gestellt ist: den deutschen Sieg zu sichern und zu vollenden in der Weltgeltung deutschen Geistes.“ („Die deutsche Sprache im Aufbau des deutschen Volkslebens“, in: Gerhard Fricke, Franz Koch, Klemens Lugowski (Hg.): Von deutscher Art in Sprache und Dichtung, Bd. 1: Die Sprache, Hg. Friedrich Maurer, Berlin 1941, S. 3–41. S. 40 f., Schluß)

Daß man die Sprache verbessern müsse, um sie dem Einrücken der Kinder in die geistige Welt ihrer Volksgemeinschaft dienstbar zu machen, erweist sich auch im Hinblick auf die Rechtschreibreform als wichtig. Weisgerber forderte die Beseitigung der Substantivgroßschreibung, damit der Deutschunterricht von dieser „richtigen Plage“ (Sprachdienst 1980) befreit werde und mehr Zeit für jene eigentliche Aufgabe habe, das Deutschtum zu fördern. Mindestens 200 Millionen Unterrichtsstunden würden jährlich allein mit der Groß- und Kleinschreibung vergeudet („Die Verantwortung für die Schrift - Sechzig Jahre Bemühungen um eine Rechtschreibreform“. Mannheim 1964:101) Ein weiterer Grund ist Weisgerbers Ablehnung eines frühen Grammatikunterrichts. Wahrscheinlich wollte er eine zu frühe reflektierende Distanzierung von der Muttersprache verhindern.

Weisgerber war Mitunterzeichner der Stuttgarter Empfehlungen zur Rechtschreibreform und hat deren Scheitern nie verwunden. In „Die Verantwortung für die Schrift - Sechzig Jahre Bemühungen um eine Rechtschreibreform“ beschäftigt er sich wieder fast ausschließlich mit der Kleinschreibung und beschimpft die Gegner als „verantwortungslos“ und „unverantwortlich“ (über hundertmal in dem kurzen Text!). Die Schwierigkeit, eine Rechtschreibreform durchzusetzen, sieht er recht gut: „Die Vormachtstellung des objektivierten Gebildes ist so vollkommen, daß die Hörigen sogar den Versuch, sie von dieser Hörigkeit zu befreien, zunächst als Gewalttat empfinden.“ (81)

(Bezeichnenderweise behandelt Weisgerber in der genannten Schrift nicht 60 Jahre Bemühungen um eine Rechtschreibreform, sondern nur 48; die für ihn selbst so wichtige Zeit des Dritten Reiches, in der es beinahe zur Rustschen Reform gekommen wäre, würdigt er keines Wortes.)

Auffallend oft drückt Weisgerber das Bedürfnis nach „Sicherheit“ aus und glaubt sie im Schoß der „Mutter Sprache“ zu finden (so betitelt Schmidt-Rohr sein bekanntestes Werk in der zweiten Auflage von 1933).
Es fällt schwer, hier nicht an lebensgeschichtliche Hintergründe zu denken.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 16.04.2018 um 19.33 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1136#38512

Manche Leute waren einfach zu katholisch, als daß sie Pg. hätten werden können; Weisgerber zählte dazu. Ein fieser Möpp auch ohne Parteibuch.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 16.04.2018 um 15.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1136#38511

Auch der Nachruf der Gesellschaft für deutsche Sprache auf Leo Weisgerber (von Johann Knobloch) verschweigt alles Völkische und die Nähe zum Nationalsozialismus, nennt W. einen „edlen und tiefgläubigen Menschen“ (Sprachdienst 29/1985).

Übrigens scheint die Angabe über Weisgerbers Parteimitgliedschaft nicht zu stimmen; ich weiß nicht mehr, wem ich sie verdanke.

Weisgerber ärgerte sich um 1980, daß die Rechtschreibreform, also hauptsächlich die Abschaffung der Substantivgroßschreibung, auch wegen der renitenten Haltung der GfdS immer weiter hinausgezögert werden sollte. Die Großschreibung sei keine Bereicherung und eine richtige Plage für die Schüler. Er forderte die "Erlösung" von diesem Übel.

Bei einem so traditionsbewußten Mann verwundert eigentlich der Mangel an Respekt vor etwas, was doch auch in Jahrhunderten gewachsen war.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 20.07.2017 um 11.57 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1136#35750

Zufällig gefunden:
Paul Grebe: „Der Stand der Rechtschreibreform“. In: Bibliographisches Institut (Hg.): Geschichte und Leistung des Dudens. Mannheim/Zürich 1968:89‒94.
Der kurze Aufsatz zeigt die Naivität, mit der Weisgerber, Grebe u. a. an die Reformer herangingen.
Bei Weisgerber kommt noch die fixe Idee hinzu, daß Kinder nicht zu früh mit Grammatik in Berührung kommen sollten. Um so mehr bestand er darauf, daß eine Buchstabenschrift nichts als das Lautbild wiedergeben sollte. Auch Grebe fand die italienische Orthographie vorbildlich.
 
 

Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 01.11.2010 um 16.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1136#16994

In einer herunterladbaren Dissertation über Leo Weisgerber (PDF-Datei, 483 Seiten [ohne Inhalts- und Literaturverzeichnis]; ca. 2,8 MB) wird auch recht ausführlich zitiert, was ich über W. und die Rechtschreibreform gesagt habe.
 
 

Kommentar von Red., verfaßt am 09.04.2009 um 15.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1136#14290

Diskussionen aller Art, die sich nicht konkret auf die Tagebucheinträge beziehen, können im Forum geführt werden. An dieser Stelle geht es hingegen um Leo Weisgerber.
 
 

Kommentar von Robert Roth, verfaßt am 06.04.2009 um 22.35 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1136#14271

Herr Höher,
in Wiki kann bekanntlich jeder schreiben, deswegen ist es ja auch mit Vorsicht zu betrachten. Man sollte deswegen solche von Ihnen vermuteten "Unterschlagungen" getrost richtigstellen. Ich habe das schon praktiziert. Allerdings weiß man nie, es sei denn man verfolgt die Sache, ob man über kurz oder lang selbst wieder überschrieben wird.
 
 

Kommentar von Oliver Höher, verfaßt am 06.04.2009 um 22.22 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1136#14270

Da Herr Ickler in seinem Brief an Bernhard Weisgerber auch Eugen Wüster erwähnt, der bekanntlich ideengebend für die Vermehrung der Großschreibung verantwortlich ist, möchte ich ergänzen, daß auch Wüster bei Wikipedia sehr knapp und oberflächlich behandelt wird. Sein Esperanto-Wörterbuch wird erwähnt, nicht jedoch (womöglich absichtlich!) sein geistiger Anteil an der Rechtschreibreform.

Am 27.5.2005 gab es hier sogar einen Tagebucheintrag zu Wüster.
 
 

Kommentar von R. M., verfaßt am 06.04.2009 um 22.14 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/ickler/index.php?show=news&id=1136#14269

Es gibt zur Frage des Opportunismus ein kerniges Wort von Kurt Ziesel: »Ich möchte hier mit Nachdruck feststellen, daß niemals irgendwer im Dritten Reich gezwungen werden konnte oder gezwungen wurde, irgend etwas zu schreiben oder öffentlich zu verkünden, was nicht seine Meinung war.« (Das verlorene Gewissen, 2. Aufl. München 1958, S. 34)
 
 

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