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26.01.2005
 

Hans Krieger
Rechtschreibung: nicht Zwang, sondern Chance
Eine Antwort auf Prof. Helmut Jochems

Zum Beitrag vom 18.01.2005 von Wolfgang Steinbrecht, „Diese Auffassung kann nicht auf Recht erhalten werden.“ Rechtschreibreform und Lehrerschaft gibt es einen bemerkenswerten Kommentar von Prof. Helmut Jochems vom 26.1.05. Von Hans Krieger erreichte uns hierzu folgende Entgegnung:

Rechtschreibung: nicht Zwang, sondern Chance

Eine Antwort auf Prof. Helmut Jochems

Daß Schreibung und Rechtschreibung nicht einfach identisch sind, ist keine neue Erkenntnis. Wichtiger ist eine andere Einsicht: daß Schreibung ihrem Wesen nach zur Rechtschreibung drängt. Der Sinn des Schreibens ist das Gelesenwerden und Verstandenwerden, und nur verläßliche Einheitlichkeit der Schreibung kann müheloses, mißverständnisfreies und vollständiges Verstehen einigermaßen garantieren. Noch die orthographischen Eigenwilligkeiten des geübten Kreativschreibers, der mit bewußten Normabweichungen Ausdruckakzente oder Denk-Impulse setzen will, setzen die unangefochtene Gültigkeit der Norm voraus und könnten ohne sie nicht zur Wirkung kommen. Die Geschichte der Vereinheitlichung der Rechtschreibung, die im wesentlichen spontan erfolgte, lehrt, daß in aller Regel Zweckmäßiges sich durchsetzte – zweckmäßig im Sinne einer Differenzierung und Verfeinerung des Ausdrucks, eines Zugewinns an Nuancen.
Daraus folgt: das orthographisch „Richtige“ ist nicht einfach darum „richtig“, weil es logisch gut begründbar wäre oder gar Gesetzescharakter hätte; es ist „richtig“, weil es das Übliche ist und damit den Zweck der Verstehbarkeit erfüllt. Es folgt weiter: da angesichts der Langlebigkeit von Texten „Einheitlichkeit“ nicht nur geographisch und sozial, sondern auch zeitlich, also generationenübergreifend verstanden werden muß, ist jede Rechtschreibreform (soweit sie über behutsame Anpassungen an den Sprachwandel hinausgeht) nicht nur unzweckmäßig, sondern im strikten Wortsinne widersinnig: sie verleugnet den Sinn der Rechtschreibung. Aber es folgt auch dies: wer sich an die übliche Rechtschreibung hält, beugt sich keinem Zwang, sondern nutzt eine Chance, und wer, aus Unvermögen oder Achtlosigkeit, die Chance nur unvollkommen nutzt, begeht keinen sanktionswürdigen Verstoß, denn das „Richtige“, das er verfehlt, ist ja nur das Übliche und darum Zweckmäßige, dessen generelle Gültigkeit freilich auch in seinem Interesse liegt. Ein Sprachunterricht ohne Angst vor dem Fehlermachen wäre also zu entwickeln, der von der Schule her jeden Ruf nach einer Simplifizierung der Rechtschreibregeln überflüssig macht.
Daß auch professionelle Schreiber die Rechtschreibung selten lückenlos beherrschen, besagt nichts gegen ihre Brauchbarkeit. Viele Profi-Schreiber kommen auch mit der Kommasetzung nicht zurecht, obwohl sie außerordentlich logisch geregelt ist, und haben Probleme mit der Grammatik; zu fragen wäre eher, warum ausgerechnet beim Schreiben der Anspruch an Professionalität so niedrig ist wie fast nirgendwo sonst. Die Forderung nach einer Zweiteilung der Orthographie in eine einfache für den Allgemeingebrauch und eine differenziertere für den Profi erledigt sich damit von selbst; sie erledigt sich aber auch wegen der Unlösbarkeit der Abgrenzungsprobleme. Auch der Hobby-Klavierspieler benützt die gleichen Noten und ein Instrument von prinzipiell gleicher Bauart wie der Konzertvirtuose. Wir brauchen eine einheitliche Orthographie, die den höchsten Differenzierungsansprüchen genügt und von der Schulbank an niemandem den Zugang zu den höheren Etagen der Sprachkultur verwehrt. Ein Niveaugefälle in der Nutzung der Chance kann und muß hingenommen werden.
Die Empfehlung von Professor Jochems, sich auf „die Vorbildwirkung richtig geschriebener Texte“ zu beschränken, ist zirkelschlüssig. Denn woran erkennt man, daß ein Text „richtig geschrieben“ ist? Auf der „Vorbildwirkung richtig geschriebener Texte“ basierte die klassische, bis zur Reform von 1996 allgemein übliche Rechtschreibung. Wer aber im konkreten Zweifelsfall Orientierung sucht, greift nicht zu „richtig geschriebenen Texten“, sondern zum Rechtschreibwörterbuch.
Die Problematik der Varianten ist eine doppelte. Unterschiedliche Schreibungen sind nahezu immer mit minimalen Bedeutungsunterschieden verbunden; wer zwischen zwei zulässigen Varianten wählen kann, hat also zu fragen, welche seinem Ausdrucksbedürfnis oder seiner stilistischen Absicht besser entspricht und darum die zweckmäßigere ist, und darf erwarten, vom Wörterbuch hierzu einen Fingerzeig zu erhalten. Wo keinerlei Bedeutungsnuance wahrnehmbar ist, sind Varianten kontraproduktiv und sollten grundsätzlich vermieden werden. Die durch die Reform beseitigte Unterscheidung von „alles mögliche“ (= vielerlei) und „alles Mögliche“ (= alles, was möglich ist) ist ein gutes Beispiel für (Schein-)Varianten, die der Genauigkeit dienen und nicht beliebig austauschbar sind. Anders verhält es sich bei „radfahren“ versus „Auto fahren“: die alte Duden-Regel (R 207) hätte auch „Rad fahren“ und „autofahren“ zugelassen und war im Wörterverzeichnis zu rigide ausgelegt. Die semantische Nuance (einmal mehr Akzent auf die Tätigkeit, einmal mehr auf das Fortbewegungsmittel) ist wohl zu minimal, um unentbehrlich zu sein, doch die unverkennbare Tendenz der deutschen Sprache zur Bildung von immer mehr Univerbierungen sollte nicht regulatorisch unterbunden werden. Bei den wirklich unentscheidbaren Zweifelsfällen aber wie etwa dem Widerspruch zwischen „in bezug“ und „mit Bezug“ wäre entweder Angleichung oder Freigabe seit Jahrzehnten überfällig gewesen; einer Reform hätte es dazu nicht bedurft.



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Kommentare zu »Rechtschreibung: nicht Zwang, sondern Chance«
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Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 27.01.2005 um 10.37 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=193#193


Rechtschreibunterricht in der Schule

Was Hans Krieger über den schulischen Rechtschreibunterricht sagt, ist doppelt zu unterstreichen: In der Lehrerausbildung muß den angehenden Pädagogen nahegebracht werden, welchen Sinn eine einheitliche Orthographie überhaupt hat. Es muß deutlich werden, daß Rechtschreibung – nicht anders als die mündliche Kommunikation (Wortwahl und Aussprache) – ein soziales Produkt ist, an dem alle mitwirken. Und daß sein einziger Zweck es ist, über Orts- und Zeitgrenzen hinweg von lesenden Mitmenschen verstanden zu werden. Es muß ins allgemeine Bewußtsein dringen, daß, wer sich dieser sachimmanenten (und deshalb ideologisch wertfreien) Forderung nicht unterordnen mag, mit den Folgen des Nichtverstandenwerdens zu rechnen hat. Es liegt also im Interesse eines jeden, sich der allgemeinen Forderung zu unterwerfen. Natürliche Sachzwänge sind es, die eine einheitliche Orthographie nötig machen – zum allgemeinen Wohle der Sprachgemeinschaft, ihres kulturellen und wirtschaftlichen Gedeihens.

Ein Lehrer, der diese Zusammenhänge verstanden hat, wird alles daransetzen, seinen Schülern eine gute Orthographie zu vermitteln, ohne jedoch den Rechtschreibunterricht als Machtinstrument „mißbrauchen“ zu wollen. Er weiß, daß nicht alle seine Schüler zu gleichen Leistungen fähig sind. Er weiß auch, daß der Wert eines Menschen nicht an seinen Schulleistungen gemessen werden darf – also auch nicht an der Orthographie. Trotzdem wird er sich bemühen, allen Kindern eine Chance zu geben, schriftliche Sprachkompetenz zu erwerben. Wir sagen ja den Kindern auch „Spricht deutlicher!“, wenn sie nuscheln. „Schreib deutlicher!“ bzw. „Schreib richtiger!“ ist eine daraus folgende, notwendige Forderung, die jeder am Wohlergehen seiner Schützlinge interessierte Lehrer stellen wird!
Rein ideologische Interpretationen aus der Erkenntnis, daß eben nicht alle Menschen zu denselben orthographischen Leistungen fähig sind, richten hier unsägliches Unheil an. Erst dadurch gewinnt die Rechtschreibung einen Stellenwert, den sie nicht verdient. Erst dadurch etablieren sich diskriminierende Verhaltensweisen, werden Menschen in „orthographische“ Klassen eingeteilt. Sind die sozialen Folgen der sogenannten Rechtschreibreform noch nicht für jeden deutlich sichtbar geworden?

Hans Krieger hat recht: Allen Schülern muß Gelegenheit gegeben werden, eine differenzierte und hochwertige Schriftsprache zu erlernen. Einer sich derzeit entwickelnden Zweiklassenorthographie nicht aktiv entgegenzuwirken und dabei gleichzeitig Chancengerechtigkeit zu fordern, ist wohl eine der paradoxesten Blüten der gesellschaftlichen und pädagogischen Gleichmacherei. Ob die Befürworter der „Leichtschreibung“ diesen Widerspruch überhaupt bemerken?


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 27.01.2005 um 20.02 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=193#194

Die Schreibung des Englischen und des Französischen hat sich seit dem Spätmittelalter nur geringfügig verändert. Auch damals war sie alles andere als eine Lautschrift. Die Schreibung der Wörter hatte sich längst verselbständigt und wurde beibehalten, obwohl die Lautung sich nicht unwesentlich weiterentwickelte. Nicht immer geschah das ganz spontan. Anglonormannische Schreiber übernahmen das "ea" aus Wörtern wie "team", weil sie dessen frühmittelenglische Lautung "ä" gut für altfranzösische Wörter wie "pais" (heute "paix") gebrauchen konnten; neuenglisch ist "peace" daraus geworden. Wer in einem Land mit Englisch oder Französisch als Nationalsprache aufwächst, muß sich den für ein gebildetes Erwachsenenleben notwendigen - sehr eigenwilligen - Schreibwortschatz aneignen. Das ist im Deutschen nicht grundsätzlich anders, und daran haben selbst die ideologiebesessenen Rechtschreibreformer nicht gerührt. Herrn Augsts Volksetymologien sind nicht mehr als marginale Späße, und selbst die exhumierte Heysesche ss-Regel hat eher typographische als orthographische Konsequenzen, ganz abgesehen von der weiterhin bestehenden Uneinheitlichkeit im deutschen Sprachgebiet. Noch einmal: Wie man eine Kultursprache schreibt, ist das Ergebnis einer viele Jahrhunderte alten Tradition. Lehrer haben zu allen Zeiten den Schreiblernern beim Erwerb des Schreibwortschatzes geholfen, indem sie auf eine Regularität hier und eine Besonderheit da aufmerksam machten. Einem systematischen Regelwerk entziehen sich jedoch die überlieferten Schreibungen. Das erkennt auch Chefreformer Augst an, wenn er in seiner zusammen mit Mechthild Dehn verfaßten Schreibdidaktik von 1998 sagt:

Im Normalfall führen die Eigenregeln der Schreiber und die (Fremd)Regeln (und Ausnahmen) der linguistischen oder sprachpsychologischen Theorien zu denselben Schreibresultaten. Eine linguistische Theorie, die nicht die üblichen Schreibungen erzeugt, ist falsch. Man kann daher von Theorien fordern, dass sie zumindest beschreibungsangemessen (deskriptiv-adäquat) sind. (S. 48)

Dann aber fährt er fort:

Neben den Eigenregeln der Schreiber, den Beschreibungen der Linguisten und Sprachpsychologen in Theorie a, b, c ... und den verschiedenen didaktischen Theorien (Lehrbücher) a, b, c ... gibt es bei der Rechtschreibung noch etwas, was es sonst in der Sprache nicht gibt: eine amtlich verordnete Normierung. Ist sonst für alle sprachlichen Theorien der sprachlich kompetente Erwachsene das Maß aller Dinge, so ist es in der Rechtschreibung das amtliche Regelbuch. Ja, der Schreiber selbst kann und darf sich im kritischen Entscheidungsfall nicht trauen, auch er muss im amtlichen Regelbuch oder in einem daraus abgeleiteten Rechtschreibwörterbuch nachschlagen. Genauer formuliert: Der Schreiber muss nicht den einzelnen amtlichen Regeln folgen, es bleibt ihm überlassen, wie er das macht. Nur das Resultat, die normierte Schreibung, ist amtlich bindend. Auch die amtlichen Regeln sind nur eine Möglichkeit von vielen, die normierte Schreibung zu erzeugen. Sie können ebenfalls auf linguistische Theorien a, b, c, ... Bezug nehmen. Deshalb müssen in der Schule auch nicht die (amtlichen) Regeln gelehrt werden. Entscheidend ist die richtige amtliche, normgerechte Schreibung! (S. 49)

Hier breitet der Chefreformer das ganze Elend der deutschen Rechtschreibung vor uns aus. Wenn die Ablehnung der Rechtschreibreform von 1996 zu weiter nichts führt als zur Wiedereinsetzung des alten Zustandes mit seiner "amtlichen" Gängelei, dann haben einige der Mitstreiter acht oder neun Jahre lang im falschen Boot gesessen.

Der deutsche Sonderweg besteht aber nicht nur darin, daß man hierzulande nicht ohne die Zwangsjacke eines staatlichen Rechtschreibregelements auszukommen glaubt. Die charakterfesten Demokraten westlich des Rheins denken ohnehin anders darüber. Ebenfalls auf die Schreibung des Deutschen beschränkt ist die Überformung der geschriebenen Sprache mit graphischen Signalen, die dem Leser eines Textes Bedeutungspräzisierungen mitteilen, die der entsprechende gesprochene Text nicht enthält. Festzuhalten ist hier jedoch vorweg, daß alle Einzelheiten der Lautung natürlich ihren schriftlichen Niederschlag finden müssen. Ob zwei aufeinanderfolgende Wörter eine Wortgruppe oder eine Zusammensetzung bilden, hört man an der Betonung. Hier benötigt also niemand eine "amtliche" Regel. Unsere deutschen Probleme fangen dort an, wo sich im Zusammenspiel von getrennt oder zusammen und groß oder klein ein orthographischer Überbau entwickelt hat, der dem virtuosen Schreiber sonst nirgendwo gekannte Bedeutungspräzisierungen gestattet, die jedoch bei vielen alltäglichen Schreibanlässen belanglos sind. Niemand hat bei der Lektüre solcher schreibvirtuoser Texte Schwierigkeiten, da sie ja auch im wesentlichen den Grundstock der deutschen Schreibungen präsentieren. Aber muß jedermann den Überbau auch schreibend beherrschen? Hier sind nun ein paar Beispiele vonnöten:

Die französische Redensart "être au courant" (eigentlich "in der Strömung sein") wird im Deutschen reichlich unbeholfen mit "auf dem laufenden sein" wiedergegeben. Ursprünglich war hier die Großschreibung üblich, denn es handelt sich ja um eine Substantivierung; dann aber setzte sich die Gewohnheit durch, den zweifellos vorliegenden "übertragenen" Gebrauch der Wendung durch die Kleinschreibung auszudrücken. Da Leser verstandesbegabte Wesen mit reicher Spracherfahrung sind, hätte man ihnen die Bedeutungspräzisierung getrost überlassen können. Es handelt sich also um einen Akt von Pedanterie, der sich in nichts von der mit Recht verhöhnten reformierten "Flussschifffahrt" unterscheidet. Wo fängt im übrigen die "übertragene Bedeutung" an, und wo hört sie auf? "Ins reine schreiben" - den normalen Schreiber des Deutschen möchte ich kennenlernen, der hier (verblaßte) Metaphorik am Werk sieht. Noch schlimmer: "ein Freudenfest für jung und alt". Wie verbildet muß man sein, um hier nicht Menschen von Fleisch und Blut vor sich zu sehen. Welche Bedeutungspräzisierung liegt denn überhaupt in der sprachwidrigen Kleinschreibung vor? Für das Satzverständnis hilfreich sind dagegen zurückgenommene Substantivierungen wie "im allgemeinen", "im wesentlichen", im übrigen". Die eigentlichen Redegegenstände, echte Substantive nämlich, werden in der Nachbarschaft solcher Wendungen leichter in ihrer Funktion erkannt als bei durchgängiger Großschreibung. Aber: Wer nicht so schreibt, gibt seinem Leser keine Rätsel auf.

Zwei Schreibungen also für die deutsche Sprache, unterschieden nach der sozialen oder kulturellen Höhenlage der Schreiber und der Leser? Keineswegs. Das ganze traditionelle Instrumentarium der Verschriftlichung deutscher Sätze sollte allen zur Verfügung stehen, die sich seiner bedienen wollen oder dazu beruflich oder sonstwie verpflichtet fühlen. Das darf aber nicht eine Forderung an alle sein. Schlimm genug, daß die Rechtschreibnormierung bei uns auch ohne die Absurditäten der Reformer eine Höhenlage erreicht hatte, die nur noch für ausgesprochene Spezialisten erreichbar war. Lügen wir uns doch nichts in die Tasche. Kein gedrucktes deutsches Sprachkunstwerk entspricht genau dem Manuskript, das der Autor dem Verleger eingereicht hat. Ohne die Akribie der Cheflektorate gäbe es nicht die absolute Normgerechtheit. Fühlen wir uns nicht alle verhöhnt, wenn Herr Augst uns zum amtlichen Rechtschreibwörterbuch schickt? Ich habe nie einen französischen, englischen oder amerikanischen Berufskollegen in ein solches Wörterbuch schauen sehen, das es im übrigen jenseits der Grenzen der deutschsprachigen Länder fast nirgendwo gibt. Auf dem Schreibtisch jeder deutschen Sekretärin pflegte früher der Duden zu liegen, heute wacht das Rechtschreibprogramm des Computers über die Einhaltung der Norm. Wir haben es soweit gebracht, über die falsche Trennung von "Hierarchie" genau so zu lachen wie über die Unfähigkeit, "Vieh" richtig zu schreiben. Heute achten Personalchefs darauf, daß die Bewerbungsunterlagen in Reformrechtschreibung abgefaßt sind, denn das signalisiert angeblich Innovationsbereitschaft. Recht so, es ist nur die Kehrseite der deutschen Anpassungsmanie. Ab 1. August 2005 wird sich zeigen, wie es mit dem Bürgerstolz hierzulande bestellt ist. Wer lediglich bereit ist, den neuen Zwang gegen den alten zurückzutauschen, outet sich staatsbürgerlich als unsicherer Kantonist.



Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.01.2005 um 05.36 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=193#195

Wenn ich den Kernpunkt richtig verstehe, möchte Herr Jochems die unterschiedlichen Ansprüche, die an die Rechtschreibfähigkeiten von Schülern und von Berufsschreibern (Korrektoren usw., heute auch Rechtschreibprogramme) zu stellen sind, bereits im orthographischen Wörterbuch berücksichtigen (das demnach in unterschiedlichen Versionen herausgebracht werden müßte), während Herr Krieger sie in die Rechtschreibpädagogik verlagert.
Ich selbst habe mich in meinen allerersten Beiträgen eher in der Richtung geäußert, daß die Zusammenlegung der allgemeinen mit der Spezialisten-Orthographie („Buchdruckerduden“) ein Unglück war. Das soll mich aber nicht hindern, die Probleme immer wieder neu zu durchdenken. Vor einigen Jahren hatte ich bereits eine Schulversion meines Rechtschreibwörterbuchs praktisch fertiggestellt, dann aber doch nicht veröffentlicht. Sie enthielt einen Auszug aus dem Wortbestand des „großen“ Wörterbuchs, aber keine anderen Regeln oder etwa Varianten, wo das große keine hat.
Ein unbestreitbares Problem ist, daß ein professionelles Wörterbuch, das sehr hohe Anforderungen an das Gedächtnis oder an die Nachschlagewilligkeit der Benutzer stellt, als „Orthographie erster Klasse“ immer eine Sogwirkung ausüben wird, gegen die das zweitklassige Schreiben einen schweren Stand haben wird. Wenn die „ganz richtige“ Orthographie zwischen alles mögliche und alles Mögliche unterscheidet, kann man dem Schüler (und seinem Lehrer) noch so oft versichern, es sei egal, wie er das schreiben wolle – diese Toleranz wird wohl nicht funktionieren.
Bei Herrn Kriegers Vorschlag liegt das Problem woanders. Er beruft sich auf das Übliche als das Richtige. Wie aber, wenn das Übliche gar nicht so eindeutig ist? Wie steht es denn mit großdenkend, seligsprechen, hiergewesen, allzubald usw.?
Der alte Duden hilft hier auch nicht weiter, im Gegenteil. Im Gespräch mit hochgebildeten Mitstreitern stelle ich immer wieder fest, daß Gewißheiten über angeblich bisher übliche Dudenvorgaben vorgetragen werden, die in Wirklichkeit nicht zutreffen: ernstnehmen, beiseiteschieben usw.
Zweitens muß der Leser die feinen Bedeutungsunterschiede, die ein raffinierter Schreiber wie Herr Krieger in seine Schreibweise hineinpackt, auch nachvollziehen können. Bei Rad fahren und radfahren kommen Herrn Krieger selbst Zweifel.
Wann gibt es Nuancen, wann nicht? Und wie kann man das behalten und jederzeit parat haben?
Meine Lösung hat für sich, daß ein Text, der nach dem „Rechtschreibwörterbuch“ bzw. nun der „Normalen deutschen Rechtschreibung“ verfaßt ist, so gut wie niemandem als irgendwie abweichend auffallen dürfte. Er entspricht also dem Üblichen und damit Richtigen. Und dies wird – wegen der vieldiskutierten Rundbögen – zu minimalen Kosten erreicht, weil nämlich der Lernaufwand radikal zurückgenommen ist. Nach ein bißchen Übung weiß jeder Benutzer ziemlich zuverlässig im voraus, wo der „Ickler“ diesen Bogen hat und es sich folglich gar nicht lohnt, nach der einzig richtigen Schreibweise zu suchen. Herr Jochems hat recht: „Eine Rechtschreibung, die selbst professionelle Schreiber nicht bis ins letzte beherrschen, kann nicht der gesamten Schreibgemeinschaft als Norm vorgeschrieben werden.“ Das trifft natürlich immer nur auf künstliche Orthographien zu, wie sie im Duden akkumuliert sind. Definiert man die Orthographie als das Übliche, so erledigt sich die Frage der Zumutbarkeit von selbst; sie stellt sich eigentlich gar nicht, denn das Übliche ist selbstverständlich auch zumutbar.
Für den Programmierer könnte man sich eine Zusatzklausel denken: alle Rundbögen ignorieren und immer zusammenschreiben, denn dies ist die „progressive“ Schreibweise. Aber für alle dekretieren würde ich es nicht. Das wäre eine willkürliche Entfernung vom Üblichen, zu der ich mich nicht berechtigt fühle.
Man müßte mal konkret über die Fälle diskutieren, die ich mit den Rundbögen verziert habe (es sind ungefähr tausend, die aber überwiegend zu Gruppen zusammengefaßt sind, z.B. mit allzu..., abwärts.../aufwärts... usw.). Dem Versuch der geneigten Kritiker, hier die Varianz zugunsten „eindeutiger“ Schreibweisen aufzugeben, sehe ich mit Interesse entgegen.



Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 28.01.2005 um 10.06 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=193#196

Meinen letzten Beitrag hatte ich verfaßt, bevor ich Herrn Jochems' letzten gelesen hatte. Deshalb nun noch ein Nachtrag, auch unter Berücksichtigung von Frau Pfeiffer-Stolz. Mir ist ja gleich nach Erscheinen des Rechtschreibwörterbuchs vorgehalten worden, ich redete einer Beliebigkeitsschreibung das Wort. Das haben wir damals umfassend diskutiert, auch scharfe Töne sind angeschlagen worden. Meine Position war immer ziemlich pragmatisch. Ich hatte immer wieder darum gebeten, mal an einer wenn auch kurzen Wörterbuchstrecke vorzuführen, wie es denn aussehen sollte, mit all den Vereindeutigungen. Leider in diesem Punkt ohne Echo. Deshalb konnte man bisher die Folgen einer solchen Eindeutigkeitsstrategie für den gesamten Wortschatz nie konkret absehen und diskutieren, während man an meinem Wörterbuch und in anderer Weise eben am Duden ganz genau sehen kann, was die Folgen sind.
Geben wir es zu: Mehr oder weniger haben wir doch alle eine Neigung, zwar dies und jenes an orthographischen Freiheiten zuzugestehen, aber insgeheim zu denken: „eigentlich“ schreibt man es ja anders, nämlich so, wie es im heiligen Duden steht. Diese Bereitschaft, die Souveränität über die Sprache abzutreten, findet man auch bei Gebildeten, die vielleicht Wesentlicheres in Texten niedergelegt haben als all die Schulmeisterlein zusammen, die uns einreden wollen, wie man „richtig“ schreibt. (Es wird zu selten beachtet, daß niemand, der uns gutes Deutsch beibringen will, selbst etwas Bedeutendes zu Papier gebracht hat. Haben denn Ludwig Reiners oder, komisch zu denken, Bastian Sick etwas von Rang geschrieben? Na also. Ich weiß schon, daß die besten Klavierpädagogen nicht unbedingt auch die größten Pianisten sind, aber bei der eigenen Sprache ist es doch ein bißchen was anderes. Hier sollte derjenige, der uns zeigt, wie man es macht, auch selbst imstande sein, es zu machen. Glänzende Schriftsteller sind sich entweder zu schade oder denken zu vornehm, als daß sie andere schulmeistern würden.)
Es ist keine „orthographische Leistung“, alle Einfälle einer Handvoll Dudenredakteure im Kopf zu haben. Man muß sich das ja so vorstellen, daß eine zufällig zusammengewürftelte Mannschaft eines Nachmittags entscheidet, daß „auf dem laufenden sein“ nur klein geschrieben werden darf – wozu es wohl eine gewisse Neigung gab, aber keineswegs einen einheitlichen Brauch. Und bei den Verbindungen mit Positionsverben wie „hängen bleiben“ hat sich die Redaktion sogar aus irgendwelchen Gründen die dogmatische Meinung gebildet, das inchoative „hängenbleiben“ sei nicht nur auf jeden Fall zusammenzuschreiben, sondern werde auch anders betont als das durative „hängen bleiben“ – letzteres mit zwei Betonungsgipfeln – eine reine Erfindung, die des Duden! „Er hat den Verräter 'hängen 'lassen“, ebenso: „der Einwand wird 'ernst ge'nommen“ – das steht tatsächlich im vielgelobten alten Duden. Darauf muß man erst mal kommen. Die falschen Regeln dazu (mit einem kleinen richtigen Kern) standen unter R 209; vgl. auch R 205. Warum soll man Leuten, die so etwas schreiben, zutrauen, daß sie die „eigentlich richtigen“ Schreibweisen niedergelegt haben?
Es kommt noch etwas hinzu: Wendungen wie „im allgemeinen“ sind häufig genug, so daß sich eine übliche Schreibweise herausbildet und auch entsprechend leicht einprägt. Für „auf dem laufenden sein“ usw. gilt das aber nicht. Hier muß man jedesmal wieder nachschlagen, und das kann doch wohl nicht die Lösung sein.
Noch ein Beispiel: Wie schreibt man „dessenungeachtet, desungeachtet“? Nach dem alten Duden beides nur zusammen, nach der Neuregelung beides nur getrennt. Dabei ist die Getrenntschreibung des selten gebrauchten „desungeachtet“ vielleicht ungewollt im Schlepptau der Auseinanderreißung von „dessenungeachtet“ entstanden; immerhin ist es die Neuschreibung aller Wörterbücher, die ja mit Billigung der Kommission überarbeitet sind. In Wirklichkeit ist „des ungeachtet“ nach heutiger deutscher Grammatik gar nicht mehr als Wortgruppe konstruierbar, die Getrenntschreibung also unplausibel. Aber zurück zum Hauptgegenstand: Weder die alte noch die neue Vorschrift entspricht der Schreibwirklichkeit. „dessenungeachtet“ wurde bisher ungefähr ebenso oft zusammen- wie getrennt geschrieben, und keiner hat es gemerkt. Daher hat die Verbindung in meinem Wörterbuch den Rundbogen bekommen, während ich bei „desungeachtet“ keinen Grund finden konnte, Getrenntschreibung in Erwägung zu ziehen.
Programmierer könnten einfach die Zusammenschreibung von „dessenungeachtet“ eingeben, das ist unschädlich und vielleicht auch wünschenswert. Aber „dessen ungeachtet“ darf nicht falsch werden. („Was die Grammatik erlaubt, kann die Orthographie nicht verbieten.“) Wo bringt man den Hinweis unter, daß die Getrenntschreibung nicht falsch ist? Nach Herrn Krieger vielleicht in einer Didaktik, oder der korrigierende und zensierende Lehrer weiß so etwas eben einfach. Ich halte das für unrealistisch. Nach meiner Auffassung ist das einfachste (oder Einfachste – das ist auch so ein Fall!), wenn man es gleich ins Rechtschreibwörterbuch aufnimmt, denn dort wird es gesucht.

Ich stimme also eher Herrn Jochems zu, auch seine Beispiele finde ich ausgezeichnet.


Kommentar von Norbert Schäbler, verfaßt am 28.01.2005 um 21.48 Uhr   Mail an
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=193#197

Fehler an der Schnittstelle

Die Botschaften der Professoren Ickler und Jochems sind sehr klar:
Spiralartig soll sich das rechte Sprachempfinden entwickeln, und dabei sollen zunächst alternative Schreibweisen gleichberechtigt nebeneinander stehen, so lange, bis sich dem Sprachschüler doch eine feine Nuance auftut zwischen der einen und der anderen Notationsmöglichkeit eines Wortbildes.

Auch die Anforderungen an die Sprachamateure und Sprachprofis sind klar:
Es genügt die Einfachheit; doch wer immer die höchste Stufe des Schreibens erreichen will, die darin besteht, letzte schriftsprachliche Feinheiten auszuloten, um eigene Worte vollwissentlich aufzeichnen zu können, der benötigt Geduld, Fleiß und Zeit bei der Anhäufung und Speicherung all der unterschiedlichen und verwandten Wortbilder.
(Paradoxerweise geschieht auf dieser letzten Erkenntnisstufe nicht etwa eine Normierung von außen, sondern es vollzieht sich statt dessen Liberalisierung und freies persönliches Abwägen mit reichlicher Treffsicherheit.)

Unklar bleiben allerdings Weg und Methode:
Die Professoren Ickler und Jochems bleiben hier Antworten schuldig; sagen zu keinem Zeitpunkt, wie sie sich die Lehrerbildung oder eine rechte Korrekturanleitung vorstellen.
Lediglich Unmut dringt durch über jene, welche im Prinzip das vollstrecken, was ihnen selbst als schnöde Worthülse übergestülpt wurde.

Recht so! Die fehlende Gegenwehr der Lehrerschaft und all derjenigen, deren Werkzeug doch die lebendige Sprache ist, kann nämlich nicht oft genug angeprangert werden, ist es zudem doch nahezu der Gipfel der Ironie, daß sich ausgerechnet die Hüter des punktgenauen Schreibens über Nacht einem Normierungswechsel unterzogen haben und von einem Tag auf den anderen mit einer auf Gedeih und Verderb verfochtenen Tradition brachen, deren annäherndes Gegenteil sie nun ebenso unerbittlich vertreten.
Oh, nein! Die Lehre der Sprachreformatoren und all ihrer Handlanger ist so begründungsleer wie niemals zuvor.
Abgrundtiefe Leere!!

Man möchte mehr erfahren darüber, wie sich die Professoren Jochems und Ickler die Lehrerbildung vorstellen, ist der Lehrberuf doch genau die Schnittstelle, an der sich Vergangenheit und Zukunft – Wohl und Wehe – kreuzen.


Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 29.01.2005 um 00.08 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=193#198

Eins nach dem andern

In der hier zu verfolgenden Diskussion spielt sich ab, was bei den Reformerfindern vermutlich völlig unterblieben ist: ein ausschließlich um sachliche Lösungswege bemühtes Suchen nach einer Darstellungsform der deutschen Orthographie, die sowohl für den Unterricht in den Schulen Gültigkeit haben als auch den Ansprüchen derer genügen können soll, die sich der Ausdrucksvielfalt der überlieferten Orthographie weiterhin bedienen oder diese weiter ausgestalten wollen. Das ist ein riesiger Spagat.

Die Reformer haben sich keine erkennbare Mühe gemacht, diesen Spagat auch nur ansatzweise zu schaffen. Und selbst in dem Bereich, für den sie eine praktikable Regelung zur Verfügung stellen wollten, sind sie gescheitert, wie inzwischen jedermann erkennt: in der Schulpraxis ist mit der neuen Rechtschreibung rein gar nichts gewonnen worden.

Hätten sie auch nur annähernd so verantwortungsvolle und in ehrlicher Bemühung um die klügste Erkenntnis fair kontroverse Überlegungen angestellt, wie unsere Diskutanten hier, so hätten sie zu der Erkenntnis kommen müssen, daß das Problem für sie unlösbar ist und man es deshalb vorläufig bei den bestehenden Verhältnissen beläßt, so problematisch diese auch in einzelnen Bereichen gewesen sein mögen.

Diese Situation ist jetzt nicht mehr gegeben. In der jetzigen Form wird die Rechtschreibung, egal was formell „entschieden“ wird, auf keinen Fall bleiben, dafür wird schon ihre Eigendynamik sorgen, deren Effekte sich bereits dort zeigen, wo sie doch durch Reformtreue gebändigt werden sollte: in den umgestellten Druckwerken, deren Orthographie den neuen Regeln Hohn spricht und sich, zumindest bei den anspruchsvolleren Produzenten, deutlich wieder auf das alte Bachbett einpendelt, aus dem es hätte herausgeleitet werden sollen.

Die Überlegungen, wie mit Orthographie umgegangen werden sollte, stehen also jetzt unter ganz anderen Vorzeichen als vor der Reform. Und da wird wohl der erste Schritt der sein, den unsere Diskutanten hier zu vollziehen suchen, nämlich die Definierung des Zieles, wie sie in Regeln und Wörterbüchern optimal dargestellt werden sollte.

Erst in einem zweiten Schritt wird man sich darüber Gedanken machen können, wie man diese Orthographie als Lehrstoff behandelt, also didaktisch effektiv an die Schüler vermittelt. Umgekehrt würde man die Fehler der Reformer wiederholen. Daß Regelwerke und Wörterbücher als verläßliche Referenz – nicht nur für die Schule – vorhanden sein müssen, darüber besteht ja Einigkeit, nur nicht darüber, wie diese am besten beschaffen sein sollten.

Einmal davon abgesehen, daß hier das Fell eines Bären verteilt wird, der uns wohl kaum vor die Flinte laufen wird: Bei Betrachtungen darüber, wie eine wie auch immer liberalere Nichtduden-Rechtschreibung an den Schulen zu unterrichten wäre, würde sich vermutlich ein ähnliches Problem ergeben wie bei der Frage, ob zuerst das Ei da war oder die Henne. Wenn nämlich Lehrer, die diese Berufsbezeichnung verdienen, ihrerseits in der Materie Rechtschreibung wirklich kompetent sind, wird es ihnen nicht schwerfallen, ihr Wissen an die Schüler weiterzugeben. Vermutlich liegt da ein Kernproblem. Die Rechtschreibreform konnte an den Schulen nur deshalb durchgesetzt werden, weil die meisten Lehrer so gut wie keine Ahnung von Wesen und Sinn der Orthographie haben, so daß ihnen deren „Regelung“ schlichtweg egal ist.



Kommentar von Theodor Ickler, verfaßt am 29.01.2005 um 07.15 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=193#199

Was die Lehrerausbildung betrifft, so bin ich ja von Berufs wegen daran beteiligt und kann sagen, daß ich mich nicht nur selbst um den orthographischen Teil bemühe, sondern daß auch die Studenten das Thema sehr gern als Prüfungsgebiet wählen. Das Interesse ist ausgesprochen lebhaft.
Nun, wenn man in einer Lehrveranstaltung einen gründlichen Einblick in das Wesen der Orthographie bekommen hat, kann man guten Rechtschreibunterricht erteilen und auch mit einem guten Rechtschreibwörterbuch umgehen. Es ist allerdings richtig, daß Didaktik immer nachgeordnet bleiben muß. Was man nicht verstanden hat, kann man nicht unterrichten. Ich habe natürlich zunächst den ersten Schritt tun müssen. Die Einzelheiten der Methode überlasse ich gern den Pädagogen.

Zu den Feinheiten ist mir noch eingefallen: Gestern wurde in Leserbriefen darauf hingewiesen,daß eine bekannte Schriftstellerin ihren prätentiösen Titel "Morire in levitate" nicht gerade klassisches Latein ist. Auf entsoprechende Zuschriften reagierte sie mit dem Argument, sie habe sich etwas dabei gedacht, weil Sterben hier als aktiver Vorgang aufgefaßt werden solle oder so ähnlich. In Wirklichkeit hat sie wohl einfach ihr verschüttetes Latein nicht mehr richtig in Erinnerung gehabt, wie so viele. Aber abgesehen davon: Sie mag sich denken, was immer sie will - beim Leser kommt es nicht an. Wie soll er denn auf den Gedanken kommen, das Deponens drücke "Passivität" aus und das falsche Aktiv nicht? Irgendwann in der Sprachgeschichte haben mittelalterliche Lateinsprecher das Verb zwar in eine andere Flexionsklasse überführt (sonst wäre es ja nicht zu den heutigen Formen in den romanischen Sprachen gekommen), aber nicht weil sie das Sterben jetzt aktiver aufgefaßt hätten.

So ist es auch mit subtilen Unterscheidungen, die jemand in die Schreibweise hineinlegen mag. Es ist ja nicht verboten, aber das Wörterbuch muß sich mit dem begnügen, was eine gewisse Verbreitung und Anerkennung gefunden hat.


Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 29.01.2005 um 07.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=193#200


Das Schreiben ist eng mit dem Denken verzahnt. Je höher das Denkniveau ist, desto differenzierter wird die Niederschrift und mit ihr die Orthographie. Wenn sich die klassische Rechtschreibung in eine Richtung entwickelt hat, die nicht ohne weiteres durch starre und logische Regeln darstellbar ist, dann aus diesem Grund. Das Lebendige ist niemals völlig logisch. Werden denn nicht auch Mathematik und Physik in ihren höchsten Etagen für den Menschen unbegreiflich? Fließt denn nicht alles, sobald es einmal ein sehr hohes Niveau erreicht?

Fragen, die ich mir seit einiger Zeit immer wieder selbst stelle, die ich auch anderen gestellt habe – ohne jedoch eine Antwort zu erhalten:
WAS genau an der klassischen Rechtschreibung war so unübersichtlich, daß man es hätte neu regeln oder gar abschaffen müssen?
Ist nicht die klassische Orthographie Ausdruck für eine sehr hohe Entwicklungsstufe des Denkens? Sie zeichnet sich aus durch unzählige Möglichkeiten der Differenzierung. In sie fließen all jene subtilen Erkenntnisse aller Menschen ein, die jemals in dieser Sprache gedacht, gesprochen und geschrieben haben. Schriftsprache ist mehr als nur ein Zeichensystem, das man einfach ändern kann, ohne dessen Inhalt zu beschädigen.

Kann ein Sprachvolk das, was es an Fähigkeiten und Erkenntnissen hat – seien diese noch so vielgestaltig und schwer zu kategorisieren – zurückkehren auf eine tiefere Stufe, nur weil die Schriftsprache in ein Prokrustesbett gezwängt werden soll, auf daß sie für Schulmeister einfacher zu handhaben sei? Und werden die ernsthaft Lernenden nicht immer nach der höchsten Erkenntnis streben?

Die heute als Fürsorglichkeit getarnte Bevormundung einer politischen Klasse hat sich bis in die Niederungen des täglichen Daseins fortgepflanzt: Wer auch immer seinen Kindern, Schülern, Untergebenen, Bürgern, Wählern vorgaukelt, Wissen, Güter und Vergnügungen dieser Welt seien im wesentlichen ohne Anstrengung und Fleiß zu erreichen, sagt ihnen nicht die Wahrheit. In diesem Klima des amtlich verordneten Wohlwollens verkümmern Leistungsbereitschaft und eine realistische Sicht der Dinge.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 29.01.2005 um 11.17 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=193#203

Wie sich die Zwischenstaatliche Kommission und die Kultusminister die Einführungsphase ihrer Rechtschreibreform und die endgültige Inkraftsetzung am 1. 8. 2005 vorstellten, wurde durch einen kurzen Artikel der Stuttgarter Nachrichten vom 31. 1. 1998 bekannt. Darin hieß es:

Die Rechtschreibreform soll am 1. August 1998 ausschließlich mit den neuen Regeln und noch nicht mit den von der zwischenstaatlichen Kommission erarbeiteten Kompromissen beginnen. Dafür sprach sich, erstmals, der Vorsitzende der Mannheimer Rechtschreib-Kommission, Gerhard Augst, am Freitag gegenüber unserer Zeitung aus.

Das von Deutschland, Österreich und der Schweiz eingesetzte Gremium hatte vorgeschlagen, daß in besonders umstrittenen Fällen neue und alte Schreibweisen nebeneinander gelten sollten. Betroffen sind vor allem Fälle der Groß- und Kleinschreibung sowie der Getrennt- und Zusammenschreibung. Mit diesem Kompromiß hatten die elf Sprachwissenschaftler auf die anhaltende Kritik am neuen Regelwerk reagiert.

Bei der Anhörung vor einer Woche in Mannheim, an der sich rund 30 Verbände beteiligten, waren die Vorschläge auf Zustimmung wie Ablehnung gestoßen. Die Fronten blieben starr. Einige Verbände, vor allem aus Österreich, hatten dafür plädiert, mit der Umsetzung der Kommissionsvorschläge bis zum Ende des festgesetzten Beobachtungstermins für die Reform im Jahr 2005 zu warten. Diese Linie vertritt nun auch Augst. "Die meisten der neuen Regeln bleiben sowieso bestehen", sagte der Kommissions-Chef zur Begründung. Zudem handele es sich bei den vorgeschlagenen Änderungen um einen "eng umgrenzten Bereich", der im Schulunterricht meist nicht "ernsthafter Gegenstand" sei. Augst: "Außerdem ist es gut, wenn die Deutschen merken, daß die Rechtschreibung nicht sakrosankt ist."


Wir wären gut beraten, uns an die Fakten zu halten statt an Legenden, die inzwischen die Rechtschreib-Köpenickiade umranken. Ein weiterer Fallstrick in dieser Endphase der Auseinandersetzung sind die ebenfalls immer stärker auswuchernden Pauschalurteile. Davon zu trennen sind Aussagen, die unsere Gegenideologie präsentieren, bei der Lösung von konkreten Problemen aber nicht weiterhelfen:

Ist nicht die klassische Orthographie Ausdruck für eine sehr hohe Entwicklungsstufe des Denkens? Sie zeichnet sich aus durch unzählige Möglichkeiten der Differenzierung. In sie fließen all jene subtilen Erkenntnisse aller Menschen ein, die jemals in dieser Sprache gedacht, gesprochen und geschrieben haben. Schriftsprache ist mehr als nur ein Zeichensystem, das man einfach ändern kann, ohne dessen Inhalt zu beschädigen.

In der Schreibung des Englischen und des Französischen hat es seit Jahrhunderten keine Veränderungen gegeben, die mit den Entwicklungen hierzulande vergleichbar wären. Orthographisch lassen sich dort also subtile Unterscheidungen wie "alles mögliche" / "alles Mögliche" nicht wiedergeben. Hat es bei unseren westlichen Nachbarn also einen Stillstand des Denkens gegeben? Ist tatsächlich die Differenzierung von "auf dem Trockenen stehen" und "auf dem trockenen sitzen" das Ergebnis einer "subtilen Erkenntnis"?

Eine sachliche Bestandsaufnahme zeigt ein einfacheres Bild und gibt vor allem keinen Anlaß zu übertriebener Gefühlsaufwallung. Das Gros der traditionellen deutschen Schreibungen ist nach wie vor unbeschädigt - trotz subtiler Entwicklungen und grober Reformen. Es gibt aber Problembereiche, in denen weder die offiziösen Dudenregeln noch die nach dem Amtsschimmel riechenden Reformregeln den Schreibern wirkliche Hilfen an die Hand gaben/geben. Hier wird nüchternes Nachdenken erforderlich sein, und hier und da wird klar werden, daß das subtile Denken wohl doch übers Ziel hinausgeschossen ist. Voraussetzung für eine ungegängelte Lösung ist aber der Verzicht des Staates auf seine "Regelungsgewalt". Erst wenn wir den in den Nachbarländern selbstverständlichen Zustand erreicht haben, ohne Duden und ohne Regelwerk zu schreiben, wird die Rechtschreibung aus einem Zwang zur Chance, und das subtile Denken der Menschen kann in die Schreibung einfließen. Das wird den Rotstift nicht überflüssig machen, aber er wird mehr die Funktion eines Helfers übernehmen.



Kommentar von Karin Pfeiffer-Stolz, verfaßt am 29.01.2005 um 11.59 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=193#204

Ich bin kein Linguist. Aber sicher existieren in anderen Sprachen andere Möglichkeiten zu feinsinnigen Unterscheidungen, die wiederum dem Deutschen abgehen. Greift es nicht zu kurz, Sprachen auf diese Weise vergleichen zu wollen? Nichts liegt mir ferner, als das Deutsche über andere Sprachen herausheben zu wollen! Wer das aus meinen Zeilen herausliest, hat mich gründlich mißverstanden!
Im übrigen bin auch ich für eine Abwertung des Stellenwerts Orthographie, gerade in der Schule. Was jedoch nicht heißen will, daß Orthographie dort nicht unterrichtet werden soll. Gerade weil Rechtschreibung eine dienende Funktion hat, ist sie das Fundament für die literale Gesellschaft.

Die Hauptfrage, WAS denn nun konkret so veränderungswürdig an der klassischen Orthographie war, bewegt mich noch immer.


Kommentar von Walter Lachenmann, verfaßt am 29.01.2005 um 12.32 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=193#205

Die Hauptfrage, WAS denn nun konkret so veränderungswürdig an der klassischen Orthographie war, bewegt mich noch immer.

Eine aufmerksame Verfolgung der hier stattfindenden Diskussion gibt dafür eine ganze Reihe von Antworten, über die man allerdings geteilter Meinung sein kann, wie die Diskussion ja zeigt.

Wie immer wieder gesagt wird: Eine Reform wäre für die Lösung oder Regelung solcher Problemfälle gewiß nicht nötig gewesen. Nun hat aber eine Reform stattgefunden, die nicht ohne Spuren zu hinterlassen aus der Welt geschafft werden kann. Deswegen wird es schon sinnvoll sein, sich darüber Gedanken zu machen, wie deutsche Orthographie dargestellt und praktiziert werden sollte, damit sie künftig den sehr unterschiedlichen Anforderungen gerecht werden könnte. Das einfache »Zurück« - das auf jeden Fall neben Entbindung des Staates von der »Regelungsgewalt« der allererste Schritt sein sollte - würde vermutlich früher oder später neue »Reformer« auf den Plan rufen.


Kommentar von Helmut Jochems, verfaßt am 29.01.2005 um 18.11 Uhr  
Adresse: http://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=193#207

Der gesprochene Satz "Ich habe alles mögliche getan" unterscheidet sich von "Ich habe alles Mögliche getan" durch die Betonung, was in diesem Falle aber nicht unmittelbar die Unterscheidungsschreibung auslöst. Der Hörer kennt natürlich zusätzlich den Kontext und zieht daraus seine Schlüsse. Sowohl gesprochen wie geschrieben wäre Eindeutigkeit leicht zu erzielen durch Formulierungen wie "Ich habe vielerlei getan" bzw. "Ich habe alles mir Mögliche getan". Im Englischen und Französischen wäre der präzisierende Zusatz nicht nötig, da "everything possible" nicht als allgemeines unbestimmtes Pronomen verwendbar ist, ebensowenig wie "tout possible". Sekundäre orthographische Phänomene sind in den beiden Sprachen nie Mittel der Bedeutungspräzisierung, bei uns aber auch nur sehr selten. Dies sind die Randphänomene, von denen Herr Krieger spricht, die man leicht aus der Obligatorik der Rechtschreiblehre hätte herausnehmen können. Andererseits kann eine selbstbewußte Schreibgemeinschaft es nicht tolerieren, daß ideologiebesessene staatliche Zwangsverwalter diese Möglichkeit ganz aus der Rechtschreibung streichen. Herr Krieger sagt jetzt auch, "Dieser absurde Korrektheitswahn, der den Sinn der Rechtschreibung vollkommen verkennt, ist das eigentliche Problem und hat dem ganzen Reformkrampf erst den Boden bereitet" und "Im Alltagsgebrauch mag es relativ egal sein, wie man schreibt, und es gibt keinerlei Grund, von jedem Büroleiter und jeder Einzelhandelskauffrau die Spezialkompetenz vollkommener orthographischer Sattelfestigkeit zu erwarten. In der avancierteren Sprachkultur aber ist es nicht egal, ob zwischen 'alles mögliche' und 'alles Mögliche', zwischen 'im allgemeinen' und 'im Allgemeinen', zwischen der 'heißersehnten' und der 'heiß ersehnten' Kartoffel unterschieden werden und in einem Satz wie 'er startete als vierter und ging als Erster ins Ziel' der logische Kategorienunterschied zwischen den beiden Zahlwörtern markiert werden kann." "Im allgemeinen" gehört auch nach meinem Verständnis in die Obligatorik, obwohl eine Unterscheidung zum bildungssprachlichen "im Allgemeinen" für die meisten Schreiber irrelevant ist. Erich Kästners Wortspiel "heiß ersehnte, heißersehnte Bratkartoffeln" fällt unter die Rubrik "kreativer Umgang mit der Rechtschreibung", enthält aber durch die deutlich unterschiedliche Betonung die üblichen Hinweise auf Getrennt- bzw. Zusammenschreibung. Im Englischen und Französischen wäre das Wortspiel nicht möglich, da Adverbien durch besondere Suffixe von Adjektiven unterschieden werden. Die unterschiedlichen Schreibungen in „er startete als vierter und ging als Erster ins Ziel" sind dagegen auch Germanisten in höheren Semestern nicht vermittelbar.

Ergo: Um Randphänomene geht der Streit, allerdings auch mit den Rechtschreibreformern, die wegen Quisquilien einige wesentliche Bereiche der deutschen Rechtschreibung in Unordnung gebracht haben. Noch eins: Die Gebetsmühlenformel "nach den neuen Regeln schreiben" hat auch bei solchen Freunden der deutschen Rechtschreibung für Verwirrung gesorgt, die es eigentlich besser wissen müßten. Unser Traditionsgut sind nicht die Regeln, sondern die herkömmlichen Schreibungen. Daß hier und da Regularitäten erkennbar sind, was sich beim Erwerb der Rechtschreibung als sinnvolle "kognitive" Stützung verwenden läßt, steht auf einem anderen Blatt. Im übrigen gehören die Feinheiten des orthographischen Überbaus eher in die Stilistik als in die Rechtschreiblehre. Richtige Rechtschreibnormalität wird erst dann wieder einkehren, wenn das obsessive Starren auf die orthographischen Besonderheiten der uns täglich begegnenden Texte in Vergessenheit geraten ist. In einem Entwicklungsland, dessen Idiome gerade eine Schreibform erhalten haben, mag die Spitzenposition des Rechtschreibwörterbuchs auf der Bestsellerliste kulturellen Fortschritt signalisieren. Bei uns ist das eher ein Anlaß, kräftig den Kopf zu schütteln.




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